Ein Gastbeitrag von Prof. Hans-Dieter Wallschläger

 

Gegenwärtig leben wir alle mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie, die durch einen Virus ausgelöst wurde und weltweit bereits viele Tote gefordert hat. In diesem Zusammenhang bewegt viele von uns die Frage, ob es in der Vergangenheit, und insbesondere in Pommern, Vergleichbares gegeben hat. Allseits bekannt sind die großen Pestepidemien, die im Mittelalter zumeist in Begleitung von Kriegen auftraten. Während der letzten Pestepidemie 1710 verstarben in Stettin 2.000 Menschen, also ein Drittel der damaligen Bevölkerung.

Eine weitere pandemisch auftretende Krankheit ist die Cholera. Pest und Cholera haben gemeinsam, dass sie im Unterschied zu Corona (Fachbegriff COVID-19) durch Bakterien übertragen werden. Pest und Corona haben eine andere Gemeinsamkeit, dass sie Zoonosen sind, also eine vom Tier zum Menschen und umgekehrt übertragbare Krankheit, die in diesen Fällen ursprünglich bei Nagetieren und Fledermäusen ihre Wurzeln hatten. Eine Mensch-zu-Mensch-Ansteckung erfolgt bei Corona und Pest über eine Tröpfcheninfektion.

Cholera hingegen ist eine schwere Infektionskrankheit des Dünndarms. Die Infektion erfolgt zumeist über verunreinigtes Trinkwasser oder infizierte Nahrungsmittel. Die Bakterien können extremen Durchfall und starkes Erbrechen (Brechdurchfall) verursachen, was zu einem starken Wasserverlust des Körpers mit Todesfolge führt. Obwohl die meisten Infektionen (etwa 85 %) ohne Symptome verlaufen, liegt die Sterblichkeit bei Ausbruch der Krankheit unbehandelt zwischen 20 und 70 %. Die in Ostasien beheimatete Cholera trat auf dem indischen Subkontinent vermutlich über mehrere Jahrhunderte in Form lokal begrenzter Epidemien auf und war auf anderen Kontinenten unbekannt. Die erste Cholera-Pandemie (weltweite Verbreitung) trat im Zeitraum 1817 bis 1824 auf und betraf Teile Asiens sowie Ostafrika und Kleinasien und in der Folge auch Russland und Europa. Erste Erkrankungen in Deutschland erfolgten 1831. Der 1855 erbrachte Nachweis durch den Arzt John Snow, dass eine Choleraepidemie im Londoner Stadtteil Soho in Zusammenhang mit verunreinigtem Trinkwasser stand, gilt als Geburtsstunde der modernen Epidemiologie (Seuchenforschung). Der Erreger der Cholera, wurde erstmals – unbeachtet von der Öffentlichkeit – 1854 von Filippo Pacini beschrieben und dann 1883 von Robert Koch im Darm von an Cholera Verstorbenen entdeckt. Koch konnte beweisen, dass der von ihm „Kommabakterium“ genannte Erreger von Keimträgern ausgeschieden wird und sich im Wasser weiterverbreiten kann.

Große Cholera-Ausbrüche gab es in Pommern 1831 und 1866. 1831 starben in Pommern 1.058 Menschen an dieser Erkrankung, bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 750.000 Personen. Letztmals trat sie in großem Umfang in Deutschland 1866 auf und forderte auch in Pommern wiederum viele Opfer. In Stettin wurden die ersten Infektionen am 19. Mai 1866 gemeldet; die eigentliche Epidemie begann aber erst am 2. Juni. Sie dauerte bis zum 9. Oktober. Die Zahl der Erkrankungen lag bei rund 70.000 Einwohnern (einschließlich Militärangehörigen) bei 3.417 mit 2.236 Todesfällen. Das entspricht 2,5 % der Einwohner. Im Ergebnis der detaillierten Analyse der Epidemieverlaufs wurden umfangreiche Vorschläge zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse, insbesondere zur Trink- und Abwasserversorgung von Stettin unterbreitet und schrittweise in den kommenden Jahren auch umgesetzt.

Kommen wir nun zum Choleraausbruch in Cammin. Dazu hat als Zeitzeuge der Stadtchronist Ludwig Kücken eine Schilderung hinterlassen, die hier wortgetreu wiedergegeben wird:

„Der Sommer des Jahres 1866 brachte eine schwere, von allen, die sie erleben mussten, unvergessene Zeit. Ende Mai wurde von einem, eben von Swinemünde kommenden Schiffe ein schwer kranker Mensch ins städtische Krankenhaus gebracht, welcher unmittelbar darauf, daselbst verstarb. Die Krankheit wurde zwar sogleich als asiatische Cholera erkannt, aber da noch Niemand von anderweitigen Erkrankungen gehört hatte, wurde von Seiten der Einwohner nicht viel auf das sich sofort verbreitende Gerücht gegeben. Allein am anderen Tage erkrankten sämtliche Personen, welche den ersten Kranken nach dem Krankenhause geschafft oder ihn aus dem Schiff geholfen hatten, und waren sämtlich in wenigen Stunden eine Beute des Todes. Nun trat die Krankheit mit entsetzlicher Heftigkeit auf, fast Niemanden ganz verschonend. Besonders heftig wütete sie in der Unterstraße am See, wo viele Familien ganz hingerafft wurden. Als die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht hatte, starben in eine Nacht 21 Personen. Auf polizeiliche Anordnung wurden alle Choleraleichen, welche sogleich nach dem Tode in einem Krankenkorbe nach dem Krankenhause abgeholt wurden, nachdem dieselben noch einen Tag daselbst gelegen hatten, durch besonders dazu angestellte Totengräber vor 5 Uhr des Morgens beerdigt. Diese Maßregel war nothwendig, aber sie steigerte das Entsetzen und den allgemeinen Schrecken in hohem Grade, und manch einer ist gerade aus der Angst vor dieser ihm drohenden, nothwendigen, aber schrecklichen Maßregel, bei Krankheitsanfall zu Grunde gegangen. Anfang Juli begann die Seuche zu erlöschen, später kamen nur noch einzelne Todesfälle vor, deren Ansteckung meistens außerhalb Cammins geschehen war. Ueber 200 Menschen sind innerhalb 5-6 Wochen, während welcher die Cholera hier herrschte, gestorben. Es ist unmöglich, an dieser Stelle vorüber zu gehen, ohne derer zu gedenken, welch in dieser Zeit der stets lauernden Todesgefahr, mit völliger Hingabe ihrer Person, dem Elend und der Noth jederzeit hülfreich entgegentraten.

Besonders ist der uns Camminern unvergessene Sanitätsrath Dr. Puchstein , welcher wochenlang nicht aus den Kleidern gekommen ist, der überall Tag und Nacht – auch ungerufen – an den Krankenbetten von Hoch und Niedrig, alle ohne Unterschied nur nach Größe der Gefahr berücksichtigend, und der besonders in den Winkeln der Armen und Aermsten anzutreffen war, so daß er während dieser Zeit sich den Keim zu seinem 1875 erfolgten Tode holte, mit der Geschichte dieses trüben Jahres eng verbunden. Dann auch unsere Geistlichkeit, und besonders unser theure Superintendent Meinhold, hat Tag und Nacht ununterbrochen, bis zur völligen Erschöpfung, mit Trost, Rath, geistlicher uns leiblicher Hülfe an Sterbe- und Krankenbetten gestanden.“

Doppelseite des Sterberegister der Dom-Gemeinde zu Cammin für das Jahr 1866 zu Beginn der Cholera-Pandemie.

Die Zahlenangaben von Kücken lassen sich durch die Einträge in den Kirchenbüchern des Doms und der altlutherischen Gemeinde bestätigen. Aus den zur Bergkirche gehörigen Dörfern des Umlands wurden interessanterweise keine Infektionen gemeldet. Der erste Sterbefall ist am 30. Mai 1866 eingetragen, der letzte für den 15. September 1866. Insgesamt betrifft dies 179 Verstorbene; darunter waren 70 (39%) männlichen und 109 (61%) weiblichen Geschlechts. Dieser Unterschied in der Geschlechterverteilung könnte daran liegen, dass die Frauen durch ihre Hausarbeit häufiger Kontakt mit Wasser hatten, das ja das wichtigste Reservoir des Erregers war. Zudem waren sie wohl auch mehr in die Betreuung von Erkrankten eingebunden waren.

Die Anteile der einzelnen Altersgruppen betrug: 0-5 Jahre ca. 17%; 6-15 Jahre ca. 12%; 16-50 Jahre ca. 41%; 50-80 Jahre ca. 30% und älter als 80 Jahre unter 1% der Verstorbenen. Auch in Cammin war nach dem Ausbruch der Pandemie sofort ein rasanter Anstieg zu bemerken: im Juni starben bereits 124 Personen an der Cholera, bis Ende Juli weitere 43, im August und September nur noch einzelne. Bei einer Einwohnerzahl von ca. 5.000 verloren davon 179, das sind rund 3,6 %, im Jahr 1866 ihr Leben durch die Cholera.

Doppelseite des Sterberegister der Dom-Gemeinde zu Cammin für das Jahr 1866 auf dem Höhepunkt der Cholera-Pandemie.

Insgesamt waren 1866 in Cammin 284 Sterbefälle zu verzeichnen, in den drei Jahren davor und 1867 waren es lediglich 105 bis 115. Eine Ausnahme betrifft des Jahr 1868 mit der ungewöhnlich hohen Zahl von 184 Sterbefällen. In diesem Jahr graste in Cammin das Scharlachfieber, dem fast 60 Kinder zum Opfer fielen. Auch 1869 starben über 20 Kinder an Scharlach und die Gesamtzahl der Sterbefälle stieg auf 136. 1870 normalisierte sich die Zahl mit 123. Das zeigt, dass eine Übersterblichkeit in einzelnen Jahren hauptsächlich durch Infektionskrankheiten hervorgerufen wird.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass in Cammin 1866 mehr als der dreifache Prozentsatz der aktuellen deutschlandweiten Sterberate an COVID-19-Infektionen (mit Datum vom 8. Juni 2020 1,1%) erreicht wurde. Unter den geschilderten Begleitumständen, wie dem mangelnden Wissen über den Erreger, über seine Übertragungswege und dem noch wenig entwickelten Gesundheitswesen, muss es daher 1866 für die Einwohner unserer Kreisstadt ein Jahr des Schreckens gewesen sein.

Hans-Dieter Wallschläger

Verwendete Literatur:

Dr. Göde: Bericht über die Cholera-Epidemie in Stettin im Jahre 1866. Stettin 1867, DIGITALISAT

Ludwig Kücken: Geschichte der Stadt Cammin in Pommern und Beiträge zur Geschichte des Camminer Dom-Capitels. Cammin 1880.

Sterberegister in den Kirchbüchern der Dom- und der Altlutherischen Gemeinden in Cammin für die Jahre 1860 bis 1870.

Ein Gedanke zu “1866 – die Cholera-Pandemie erreicht Cammin”

  • Sehr interessanter Artikel. Auch in Wangerin Kr. Regenwalde wurden 1866 durch die Cholera 122 Tote verzeichnet. Am 13.9.1866 war das 14. Choleraopfer die 52-jährige Amalie Johanne Stips geb. Grosskreutz, die Frau des Bruders meines Ururgroßvaters.

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