Ein Beitrag von Prof. Hans-Dieter Wallschläger

 

Kein Camminer, der nicht den Cordula-Schrein kennt! Über den wohl ehemals bedeutendsten Bestandteil des seit März 1945 verschollenen Camminer Domschatzes wurde mehrfach berichtet. Auch in wissenschaftlichen Fachzeitschriften gibt es immer wieder Veröffentlichungen über den Cordula-Schrein.

Eine erste ausführliche reich illustrierte Beschreibung des Schreins befindet sich in einem Buch des Volkskundlers Walter Borchers (Der Camminer Domschatz, Stettin 1933):

Der Schrein besteht überwiegend aus Knochenplatten (Elchschaufel?) und vergoldeten Kupferbeschlägen mit den Maßen: Länge 56 cm, Breite 35 cm, Höhe 27,5 cm. Der Kasten ist oval mit abgeplatteten Enden und flach gewölbtem Deckel, der Boden eine Eichenplatte neueren Datums. Wandung und Deckel bestehen aus 22 meist leicht und unregelmäßig gewölbten, rechteckigen, trapezförmigen und an den Schmalseiten fünfeckigen Platten, die durch breite auf der Außen-und Innenseite aufgelegte und durchgenietete Kupferblechstreifen zusammengehalten werden. Die Streifen sind teilweise gegossen und auf der Außenseite vergoldet.

Der Kasten ruht auf sechs Füßen: Die beiden mittleren (einer davon erneuert) sind aus einem kurzen, seitlich von Wülsten begrenzten Bandstück mit einer nasenartigen Ausbuchtung hergestellt, die übrigen vier, an den Ecken der Schmalseiten, tellerartig, gleichfalls mit den anschließenden Bandstücken verbunden. Der Deckel ist der Länge nach durch ein Band mit aufgesetztem Mittelgrat von dreieckigem Querschnitt halbiert. Die vier Querbänder enden nach der Mitte zu in plastischen Wolfsköpfen, an der Außenkante in frei hervortretenden Vogelköpfen, das Längsband an der Spitze der Schmalseiten in Vogelköpfen mit Ohren. Sämtliche Köpfe sind gegossen und aufgenietet. Das Mittelfeld der einen Deckelhälfte ist für sich gerahmt und nach der Mitte zu aufklappbar. Die beiden, die Öffnung seitlich umfassenden, Streifen sind mit den daran befindlichen Köpfen aus einem Stück gegossen. An den oberen Ecken der Schmalseiten treten Wolfsköpfe mit weit aufgerissenem Rachen um 4 cm vor, ebenfalls mit den anschließenden Bändern zusammengegossen und vielleicht als Tragegriffe benutzt. Die Bänder der Seiten sind ohne Köpfe, die Kanten der Schmalseiten durch gerillte Stege betont. Unterhalb des Klappdeckels liegt eine flache Schlossplatte mit winkelförmigem Schlüsselloch und einem durch zwei mit Scharnieren an dem Klappdeckel befestigten Verschluss und unten in Wolfsköpfen endenden Bügeln.

Sämtliche Bänder sind graviert: vorherrschend sind Wellenbänder mit einem spiralig rückwärts gebogenen Dreiblatt in rechteckiger Rahmung. Auf den gegossenen Stücken regelmäßig wiederholtes Flechtwerk auf punktiertem Grund in Rahmen, auf einem senkrechten Stück seitlich einer Schmalseite vier verschlungene Wellenbänder. Auf der Schlossplatte in gleicher Technik zwei einander zugekehrte Vögel. Die Tierköpfe sind sämtlich gegossen und in allen Details nachziseliert. Die nach unten geklappten Flügel der Vögel sind miteinander verflochten.

Das Material der Beinplatten ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Die eigentümliche windschiefe Krümmung und die kapillare Struktur der Platten werden am ehesten durch die Annahme erklärt, dass es sich um Elchschaufeln handelt. Die Rückseite der Platten ist glatt, die Vorderseite geschnitzt und poliert. Die Farbe ist blassgrau, in den Tiefen mit ausgesprochen rötlicher Tönung, vielleicht infolge früherer Bemalung. Sämtliche Platten sind innerhalb eines schmalen, jetzt vielfach verdeckten Rahmens mit reichem Tierflechtornament überzogen. Sämtliche Kanten sind leicht abgerundet. Das Flechtwerk ist relativ weitmaschig, die Lücken sind mit Perlen, an verschiedenen Stellen maiskolbenartig zusammengefügt, dicht ausgefüllt. Mittelpunkt einer jeden Feldkomposition sind ein oder zwei großflächige Tierkörper, seitlich gesehen, oder ein menschliches Gesicht frontal. Die Figuren der größeren Tiere sind vollkommen für sich komponiert, in ziemlich starker Anlehnung an das Naturvorbild, und nur von Flechtwerk umgeben. Die Kompositionen der einzelnen Platten sind aufeinander derart abgestimmt, dass auf dem Deckel symmetrisch nebeneinanderliegende Felder die gleichen Tierarten zeigen, ebenso die beiden Längsseiten für sich. Auf den Schmalseiten ein menschliches Gesicht (Maske). Außer der kompositorischen und der in den plastischen Köpfen ist jedoch jede Symmetrie vermieden.

Der Schrein ist im Wesentlichen gut erhalten, die Vergoldung der Bänder stark abgegriffen. In der Klappdeckelplatte drei, ebenfalls in der Schlossplatte und ein Bohrloch in einer Schmalseite. Das Schloss fehlt. Wie der ursprünglich für weltliche Zwecke bestimmte Schrein nach Cammin gekommen ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Eine erste Erwähnung als Bestandteil des Domschatzes stammt von 1617.

Den Inhalt, angeblich Schädel und weitere Gebeine der Heiligen Cordula, hat der Berliner Pathologe, Anthropologe und Prähistoriker mit pommerschen Wurzeln Rudolf Virchow (1821-1902) bereits 1875 als Fälschung entlarvt. Die Gebeine der Heiligen Cordula, stammen nach Virchows Bericht von einer älteren Frau (Virchow, R. (1875): Schädel der heiligen Cordula. Vorträge der Berliner Gesellschaft für Anthropologie. In: Zeitschrift für Ethnologie 7, S.136-140).

Im Frühjahr 1942 wurde der Domschatz mit dem Cordula-Schrein zusammen mit dem Hochaltar, den Ölbildern aus der Sakristei und dem Kruzifix von 1270 auf der Grundlage einer Anordnung des Reichsministers für Luftfahrt vom September 1939 zur Vermeidung von Bombenschäden aus dem Camminer Dom nach Benz, dem unweit von Cammin gelegenen Sitz der Familie von Flemming, ausgelagert. Lediglich zwei Kelche mit Patenen und Oblatendosen verblieben für den täglichen Gebrauch im Dom. Die vom damaligen Camminer Superintendenten Lic. H. Scheel angefertigte Inventarliste beinhaltet 38 Positionen (Landesarchiv Greifswald Rep. 55 Nr. 711).

Die Kisten befanden sich bis zum Morgen des 5. März 1945 in Benz. Eine zwischenzeitlich speziell für den Kordulaschrein angefertigte Kiste, die möglicherweise auch weitere Teile des Domschatzes enthielt, wurde auf einen Treckwagen des Grafen von Flemming verladen. Der Treck wurde noch am gleichen Tage auf der Straße nach Wollin zwischen Parlowkrug und Alt-Tessin von russischen Panzern überrollt. Seitdem ist der Cordula-Schrein verschollen. Später wurden in der Benzer Kirche von polnischen Behörden der Hochaltar des Doms, das Kruzifix und mehrere Ölbilder sichergestellt und wieder nach Cammin gebracht. Das Kruzifix und ein Teil der Gemälde wurden an das polnische Landesmuseum in Stettin übergeben. Weitere ausgelagerte Objekte konnten trotz umfangreicher Suche nicht lokalisiert werden (Holtz, A. (1966): Ist der „Cordula“-Schrein aus dem Domschatz Cammin verschwunden? Bericht und Dokumentation. In: Baltische Studien 52, S. 133-137; siehe auch https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/image/PPN559838239_NF_52/1/LOG_0003/). Das polnische Fernsehen interviewte in den 1960er Jahren u.a. den letzten Besitzer von Benz Hasso Graf von Flemming, zwei ehemalige Einwohnerinnen von Benz (alle waren auf dem Treck mit den o.g. Kisten dabei), den Denkmalpfleger Dr. Walter Ohle und auch eine Reihe weiterer Personen, wie den polnischen Kunsthistoriker Prof. W. Filipowiak, den damaligen Domprobst R. Kostynowicz und den Camminer Apotheker und Kunstsammler Radomski zum Schicksal des Cordula-Schreins. Der 40-minütige Film soll in enger Zusammenarbeit mit der polnischen Staatssicherheit entstanden sein, die jahrelang ergebnislos nach dem Camminer Domschatz suchte.

Die in Cammin verbliebenen Teile des Domschatzes haben, wenn auch nicht komplett erhalten, den Krieg überdauert und werden dort heute ausgestellt werden (Kochanowska, J. (2004): Der Domschatz zum Cammin. Szczecin).

Inzwischen ist die Entstehungszeit des Schreins um das Jahr 1000, die skandinavische Herkunft und die Zuordnung zum sogenannten Mammen-Stil weitgehend geklärt. Auch zu den auf dem Schrein eingravierten Symbolen gibt es einleuchtende Erklärungen (Springer, T. (2006): Der Schrein von Cammin. In: Kulturgut – Aus der Forschung des Germanischen Nationalmuseums, I. Quartal 2006, Heft 8).

Vom Cordula-Schrein wurde ein Abguss hergestellt und davon mehrfach Repliken angefertigt Alle Abformungen stammen aus Berliner Museumswerkstätten, wo wahrscheinlich gleichzeitig mit den Forschungen Virchows der genannte Gipsabguss genommen worden war. So kam eine Replik schon 1896 ins Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.

Nachbildungen kann man heute finden

  • im Pommerschen Landesmuseum (ursprünglich im Besitz der Stiftung Pommern in Kiel),
  • im Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz,
  • im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (die beiden letzteren sind evtl. miteinander identisch),
  • im Kunstgewerbemuseum in Berlin,
  • im Dänischen Nationalmuseum Kopenhagen,
  • im Wikingermuseum Haithabu im Schloss Gottorf in Schleswig-Holstein und
  • auch wieder im Camminer Dom (ein Geschenk der Heimatgemeinschaft der Camminer).

Ein kurioses Schicksal hatte eine Abformung, die Bestandteil des Kellerkopf-Denkmals bei Holzwickede in Nordrhein-Westfalen war. Das vom Bildhauer Fritz Richter-Elsner aus Berlin geschaffene und am 1. September 1929 eingeweihte Denkmal dient der Ehrung von Gefallenen des 1. Weltkriegs. In die Ringmauer wurde ein angeblich aus massiver Bronze hergestellter Abguss des Cordula-Schreins eingelassen. Nach einem Zeitungsbericht (Westfälische Rundschau vom 9.5.2012) wurde der Schrein 1951 von einem Schrotthändler gestohlen. Der „versilberte“ ihn auf Nimmerwiedersehen und soll dafür auch vor Gericht verurteilt worden sein.

Wenn auch das Original nicht mehr vorhanden ist, sind die heutigen Ausstellungsstücke dennoch eine bemerkenswerte Erinnerung an den Reichtum des „Camminer Domschatzes“.

Hans-Dieter Wallschläger (leicht veränderter Nachdruck aus den Camminer Heimatgrüßen, Folge 522 (2016), S. 9-11)

 

Cordula-Schrein: Vorderansicht
Cordula-Schrein: Rückansicht
Cordula-Schrein: Aufsicht

 

Cordula-Schrein: Seitenansicht
Cordula-Schrein: Verteilungsmuster der Bild-Darstellungen auf den Feldern
Cordula-Schrein: Seitenfeld mit Maske
Cordula-Schrein: Deckelfeld mit Vögeln und Zweibeinern
Cordula-Schrein: Wolfskopf am Deckel
Cordula-Schrein: Titelblatt des Katalogs der vielbeachteten Ausstellung in Stettin von 1938