Ein Beitrag von Wolfram Stratmann

 

Vorwort

Bei der Familiengeschichtsforschung stößt man mittlerweile immer wieder auf den zweiten Weltkrieg. Obwohl dieser viele Familien stark beeinflusst hat, ist in Deutschland die ahnenforscherische Beschreibung der Verbindung zwischen diesem Krieg und der Familie ein Tabuthema. Eine realistische Familiengeschichtsforschung kann jedoch nicht bei diesem Krieg aufhören. Zu einem klaren Bild der Familiengeschichte gehört auch das von Familienmitgliedern angerichtete oder erduldete Inferno. Der folgende Text zeigt den Versuch eines Ansatzes.

Wie ein junger Mann im Krieg erwachsen wurde

Vorab sollte die Sichtweise auf einen Krieg geklärt sein. Ein Blickwinkel ist ideologiegeprägt. Es gab Männer die politischen Parolen folgend freudig in den Krieg zogen. Einige davon erteilten Befehle und waren nie selbst in den Kampf verwickelt. Diese Leute hielten die politischen Parolen aufrecht. Andere mussten kämpfen und in dem Überlebenskampf verloren die Parolen ihre Bedeutung.

Der zweite Blickwinkel ist humanistisch geprägt. Ein Leben ist weltgeschichtlich betrachtet mehr oder weniger bedeutungsvoll. Individuell betrachtet ist ein Leben jedoch das höchste Gut. Egal in welchem Teil der Welt, ein Lebensweg sollte friedlich und glücklich im harmlosen Chaos verlaufen.

Das Leben dieses jungen Mannes geriet allerdings auf die weltgeschichtlich negative Seite. Die kollektive Schuld des Bösen lastete lebenslang auf ihm und belastet seine Nachkommen. Ich nenne diesen jungen Deutschen Humphrey. Das bedeutet friedvoller Krieger. Dieser Text ist ein Teil der Recherche-Ergebnisse zum Leben des jungen Mannes in Deutschland.

Humphrey lernte an der Waldorfschule in der Stadt Kassel die Natur, den naturfreundlichen Gartenbau und Landschaftsparks zu schätzen. Solche Lernziele passten den Nationalsozialisten nicht und deren Funktionäre schlossen diese Schule. Die ehemaligen Schüler dieser Waldorfschule wurden auf gleichgeschalteten Schulen bis zu drei Jahre lang umerzogen. Der Junge ging nun auf das nazikonforme naturwissenschaftliche Humboldt Gymnasium in der Stadt Erfurt. Die menschenverachtende nationalsozialistische Hetze an dieser Schule hielt er nicht aus und verließ sie trotz Versetzung in die nächste Schulklasse. Nun absolvierte er eine Ausbildung in einem damals innovativen Beruf. Die Ausbildung zum Mineralölkaufmann beendete er an einem Dienstag und am Mittwoch wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Der kriegserfahrene Vater und sein Sohn waren voller dunkler Gedanken, aber einen Ausweg sahen sie nicht.

Humphrey war jetzt neunzehn Jahre alt. Die ersten beiden Jahre seines Kriegsdienstes verliefen für ihn glimpflich. Er überlebte. Dabei kam er nach der soldatischen Grundausbildung bei der Flugabwehr und einem einsatzverzögernden Lazarett-Aufenthalt an die Ostfront. Dort rückten die deutschen Kampfeinheiten schnell, relativ ungefährdet gegen die wehrlose russische Bevölkerung vor. Man darf annehmen, dass auch Humphrey das tat was erobernde Truppen tun. Dabei wurde Humphrey krank, kam in ein Lazarett und dann zu einem Feld-Ersatz-Bataillon weit weg von der Ostfront in die Stadt Delmenhorst. Seine Kampfeinheit wurde inzwischen aufgelöst. Später wird er berichten, ihn habe an der Front nur seine Liebe zur Natur aufrechterhalten.

Nach Angabe des Bundesarchivs (BA.) war Humphrey am 20.3.1943 noch in diesem Ersatz- Bataillon. Acht Monate später, am 21.11.1943 war Humphrey laut BA. bei den Panzerjägern (2.Kompanie Panzerjäger-Abteilung 292. Abkürzung: 2/PzJg Abt 292). Diese Einheit agierte gemäß militärischer Geschichtsschreibung an der Ostfront. Bei der deutschen Aktion Büffelsprung lag die 292. Infanterie Division (Abkürzung: 292 ID), zu der die Einheit von Humphrey gehörte, Anfang März 1943 bei dem Ort Gschatsk, etwa 120 km vor Moskau. Heute heißt dieser Ort Gagarin. Russland konnte sich inzwischen mit ausländischer Hilfe bewaffnen und kampffähige Truppen aufstellen. Deren Kampfkraft wirkte sofort. Bereits Mitte März 1943 begann der Rückzug der deutschen 292 ID vor der russischen Übermacht. Das Kriegsgeschehen hatte sich gegen den deutschen Aggressor gewendet. Bis November 1943 wich die Kampfeinheit von Humphrey etwa 720 km weit in die Gegend von der Stadt Gomel zurück. Die Kampflinie lag nun am Fluss Dnjepr.

Ob Humphrey seit Ende März 1943 bei diesen Panzerjägern war und gejagt von der Sowjetarmee den ständigen Rückzug mitmachte, oder ob er dort am 21.11.1943 erst ankam und sofort in ein Schützenloch befohlen wurde, ist unbekannt. Das BA. erklärt zu Humphrey lapidar: „1 km südöstlich von Greberowo schwer verwundet, linkes Knie und beide Hände“. Humphrey berichtete später, man habe ihm eine Handgranate in sein Schützenloch geworfen, die explodierte.

Bei der Lokalisierung des Verwundungsortes half die Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Kassel. Sie nannte für den in Weißrussland befindlichen und etwas anders geschriebenen Ort Gerbenowo die Koordinaten Lat 52,13301 und Lon 30,1833.  Mit ein wenig militärischer Kenntnis kann man annehmen, das Schützenloch befand sich nordwestlich am Waldrand oberhalb der heutigen Straße „P33“. Von dort waren es bis zum Fluss Dnjepr 35 km Luftlinie. Humphrey war alleine in seinem engen Erdloch. Er hatte ein Gewehr und einige Schuss Munition. Die Lage um ihn herum war prekär. Dabei starben an der Ostfront nach heute zugänglichen Verlustlisten alleine im Juli 1943 etwa 199.000 Mann. Das Sterben ging bis Kriegsende weiter. Zum Vergleich, die gesamte Bundeswehr der BRD hat im März 2019 rund 181.000 aktive Soldaten. Dieses Kontingent wäre im zweiten Weltkrieg, an dieser Front, in vier Wochen verheizt worden. Man kann sich so ein massenvernichtendes Inferno kaum vorstellen. Hinzu kommen die Verluste bei den Russen. Die Geschichtsschreibung zur 292. Infanterie Division, zu der die Panzerjäger (2/PzJg Abt 292) von Humphrey und das Grenadier Regiment 507 gehörten, lässt eine schwierige Lage vermuten. Die Kampfstärke war reduziert. Zum Beispiel, werden für das auch dazugehörige Grenadier Regiment 508 nur noch 117 Mann Kampftruppe genannt, anstatt 2500 bis 3000 Mann. Wie viele Mann die Panzerjäger von Humphrey waren, ist nicht bekannt. Vielleicht hatten diese nach 720 km Rückzug auch nur noch 4 % ihrer kämpfenden Männer. An dem Tag durchbrach die Sowjetarmee die Frontlinie, setzte über den Fluss Dnjepr und rückte schnell vor. Humphrey kauerte immobil in seinem Schützenloch und wurde überrannt. Im hin und her wogenden Gefecht wurde Humphrey von Sanitätern geborgen, notdürftig versorgt, zu einem westlich gelegen Flugplatz gebracht und, wie er berichtete, mit dem letzten Flugzeug ausgeflogen. Das Flugzeug brachte Humphrey zum 460 km entfernten Ort Brest. Am 22.11.1943 schloss die Sowjetarmee den Kessel um die deutsche 292 Infanterie Division. Das BA. verzeichnet für Humphrey am 26.11.1943, „Reservelazarett I Brest-Litowsk, multiple Granatsplitter-Verletzung linkes Bein, beide Unterarme und Hände“. Dann nennt das BA. für den 27.11.1943 lapidar, „Reservelazarett Frankenberg, gleiche Verwendung“. Dieses Lazarett Frankenberg lag bei der Stadt Chemnitz. Möglicherweise wurde Humphrey die 770 km Luftlinie zwischen beiden Lazaretten im Flugzeug transportiert. Im Lazarett Frankenberg blieb Humphrey vermutlich bis März 1944. Er berichtete später immer noch tief berührt: „Ich war in einem Lazarett. Dort quälten mich die Verletzungen, bis eine Krankenschwester auf mich deutete und zu einer anderen sagte, lass den in Ruhe, das ist ein Moribundus. Man ließ mich in Ruhe und das tat mir gut. Ich war glücklich, dass sich jemand um mich sorgte und mich beschützte. Die Last der Kriegsdienstpflicht fiel von mir ab und ich wurde gesund. Das Wort Moribundus und was ich damit verband, hatte mich gewissermaßen gerettet. Erst viel später bekam ich heraus was der Begriff bedeutete: Sterbender. Ich blieb trotzdem dankbar, wusste aber, dass ich mich selbst gerettet hatte.“ So entkam Humphrey im Alter von einundzwanzig Jahren dem Tod. Die noch vorhandenen Granatsplitter wurden nicht aus seinem Körper entfernt.

Laut BA. war Humphrey seit dem 02.04.1944 nicht mehr in einem Lazarett, sondern bei einer Kampfeinheit. Diese wurde jedoch in den Tagen, im Kessel von Heiligenbeil am Frischen Haff zerschlagen. Humphrey gibt an, ab April 1944 in der Genesungskompanie des Flugabwehr Ersatz Bataillon 52 (Abkürzung: Fla Ersatz Btl 52) in der Stadt Delmenhorst gewesen zu sein. Dort sei er zum Funker ausgebildet worden. Das war damals ein Hightech-Job mit über zwanzig Kilo schweren Funkgeräten und externen (Auto) Batterien zu deren Stromversorgung. Weil er noch nicht genesen war und weil ihm von hoher Offiziersseite versprochen wurde, dass er nie mehr an die Front kommt, entging er dem nächsten Fronteinsatz. Die abkommandierten Teile seines Bataillons wurden in Holland innerhalb von zwei Wochen aufgerieben. Humphrey verließ sich auf das Schutzversprechen und begann wieder an das Leben zu glauben.

Am Samstag den 23.12.1944 heiratete Humphrey in Erfurt die gleichaltrige Betty aus Delmenhorst. Das etwas seltsame Hochzeitsdatum kann mit Soldatenurlaub und dem damals verbreiteten Phänomen der Spontanhochzeit zusammenhängen. So konnte Humphrey in eine bessere Zukunft blicken. Das stellte sich im Februar 1945 als Illusion heraus. In diesem Monat wurde er an die Westfront verlegt. Das geschah üblicherweise ohne Vorankündigung. Sodass er sich vermutlich nicht von seiner Frau verabschieden konnte. Er war einfach weg. Nun war er wieder Todgeweiht. Sein Glaube an Gerechtigkeit und Staatsversprechen erlosch. Bei Wesel geriet er als Funker in den Ruhrkessel, den die westlichen Alliierten um die deutschen Truppen bildeten. Die Recherche zeigte, dort hat es schwere Kämpfe gegeben. Die Stadtgeschichte von Wesel nennt erbitterte Kämpfe am 16., 17. und 19.2.1945. Am 23.3.1945 wurde Wesel zu 96% zerstört.

Das Bild der USAAT NAID 535793 lässt die Intensität der Kämpfe erahnen.

Quelle: USAAF – Diese Datei ist im Bestand der National Archives and Records Administration verfügbar, katalogisiert unter dem National Archives Identifier (NAID) 535793., gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=180496

Im gesamten Bereich des Fotos war vorher die Stadt mit Häusern und Straßen. Bei den Kampfhandlungen kamen seine unerfahrenen Kameraden sofort um. Humphrey wollte sich nun zu dem vereinbarten Truppensammelpunkt für Funker begeben. Dabei sah er an Straßenbäumen aufgehängte Kameraden. Dazu berichtet Humphrey: „Ich ging in Deckung weiter und kam zu zwei deutschen Soldaten die neben einem Fahrzeug standen. Diese wollte ich um Munition bitten und fragen ob sie wissen wie man schnell zum Sammelpunkt meiner Einheit kommt. Es waren Militärpolizisten. Die berüchtigten Kettenhunde. Sie wurden so genannt, weil zu ihrer Uniform eine auffällige Halskette gehörte. Diese politisch linientreuen Leute, hatten die Macht deutsche Soldaten waffenlos zur Kampflinie zurückzutreiben, oder sie zu töten. Hier hatten sie meine Kameraden zur Abschreckung der eigenen Leute an den Straßenbäumen aufgehängt. Weil ich nicht an der vermeintlichen Kampflinie geblieben war, wollten sie mich wegen Feigheit vor dem Feind ebenfalls aufhängen. Meine Gedanken liefen blitzschnell ab. Das Vaterland hatte mich verraten und doch wieder an die Front geschickt. Man kämpft im Krieg nicht für eine Sache, sondern um das eigene Überleben. Meine Einheit war versprengt und mir wurde nun von Polizisten vorgeworfen, dass ich pflichtgemäß zum vereinbarten Sammelpunkt meiner Einheit gelangen wollte. Sie wollten mich für diese Pflichterfüllung aus politischen Gründen mit dem Tode bestrafen. Ich wusste nun, dass Polizisten nach einem eigenen dienstlich konformen Weltbild handeln. Aus meinem Blickwinkel war das hier ungerecht. Diese Ungerechtigkeit, war für mich zu viel. Die Polizisten hatten offensichtlich keine Kampferfahrung. Als Kampferfahrener verhandelte ich nicht, nahm mein letztes Kampfmittel, eine Handgranate, und tötete damit die beiden Polizisten. Ohne Munition ging ich weiter. – Später wurde ich gefangen genommen. So beendete ich den Krieg.“

Als Humphrey im August 1945 aus der Gefangenschaft zurück kam, begann er bei seiner ehemaligen Lehrfirma zu arbeiten. Nach zwei Jahren war er arbeitslos und hungerte. Seine Kriegsehe zerbrach. Mit jetzt vierundzwanzig Jahren hatte er Morden gelernt, jahrelange Todesangst überstanden, war von schweren Erkrankungen genesen, war vom Staat, der ihm alles abverlangte endtäuscht worden, und trug nun das Stigma des Täters und Völkermörders. Sein Versuch ein normales Leben mit Familie zu führen war gescheitert. Der junge Veteran lebte nun in einem sozialen und tatsächlichen Trümmerhaufen. Sogar einen Staat, oder eine Gesellschaft mit sozialen und kulturellen Werten gab es nicht. Humphrey dachte „nie wieder Krieg“ und lebte jetzt einfach weiter. Seine Liebe zur Natur hielt ihn aufrecht. Ob er innerlich erwachsen war spielte keine Rolle, er musste nur funktionieren bis er die Kulturtechniken eines Erwachsenen in einer neuen Kultur beherrschte.

 

 

Quellenhinweise.

-Geschichte der Waldorfschulen und Geschichte der Waldorfschule Kassel.

-Der Antrag auf Dienstzeitbescheinigung des … vom 28.01.1978.

-Die Auskunft des Bundesarchivs (BA) vom 08.7.2019, Az.: PA 2-170119/ (2019/G-206).

-Auskunft der Deutschen Kriegsgräberfürsorge Kassel.

-Rüdiger Overmanns, Skript etwa 1999, Menschenverluste der Wehrmacht an der „Ostfront“.

-Gefangenen-Dokumente der Briten.

-Erzählungen aus der Familie.

-Internetversion des Lexikons der Wehrmacht.

-Zahlreiche Nebenrecherchen zum Militär und zum Zeitgeist in Literatur und Internet.

-Google Earth.

-Eine Armee ist in Einheiten aufgeteilt. Die in diesem Text genannten Einheiten in ihrer Hierarchie von oben nach unten: Infanterie Division (ID); damals gleichrangig Panzerjäger-Abteilung (PzJg Abt) und Regiment (Rgt); Bataillon (Btl); Kompanie (Zahl oder Kp). Für näher Interessierte: HTTPS://DE.WIKIPEDIA.ORG/WIKI/GLIEDERUNG_EINER_INFANTERIE-DIVISION_DER_WEHRMACHT  und  HTTPS://DE.WIKIPEDIA.ORG/WIKI/LISTE_MILIT%C3%A4RISCHER_ABK%C3%BCRZUNGEN .

-Leider beruht die öffentlich zugängliche militärische Geschichtsschreibung nicht immer auf eindeutig beweisbaren Fakten, weil die Quellen unvollständig sind, oder interessen-orientiert interpretiert wurden. Hier ist ein sorgfältiger Quellencheck notwendig.

(Ein krasses Beispiel der Faktenverdrehung findet sich bei dem Kampfkraftvergleich zwischen deutschen Soldaten und gegnerischen Soldaten. Demnach hatte ein deutscher Soldat so viel Kampkraft wie sieben Gegner. Dabei wird verschwiegen, dass die generischen Soldaten zu Pferde, bewaffnet mit Säbeln gegen deutsche Panzer ritten.)