Ein Beitrag von Martina Riesener
In allen Kulturen der Welt entwickelte sich entsprechend der jeweiligen Überlieferungen verschiedenartiges Brauchtum. Basierend auf Traditionen entstanden, beeinflusst von weltlichen und religiösen Verhältnissen, zahlreiche Rituale.
Diese zumeist feierlichen und formell festgelegten, teilweise als Kulturgut anzusehenden Bräuche, beinhalten einen hohen Symbolgehalt. Auch Trauerrituale sind Teil dieser Alltagskultur.
Nachfolgend berichtet Annaluise Meschke, geborene Moritz, in ihrem Artikel „Wenn der Tod über das Leben siegt“ über die pommerschen Totenbräuche und erzählt einfühlsam über ihr bedrückendes, persönliches Erlebnis während eines Traueressens, dem sogenannten Leichenschmaus:
War ein Familienmitglied so krank und schwach, daß man befürchten mußte, es nicht mehr lange auf Erden zu haben, dann rief man den Pastor herbei. Oftmals wünschte der Kranke auch selbst den Zuspruch des Seelsorgers. Dieser gab dann dem Todgeweihten das heilige Abendmahl. Kam dann das letzte Stündlein, sofort benachrichtigte man alle näheren Verwandten und die liebsten Freunde des Sterbenden, um dem Scheidenden in der Abschiedsstunde nahe zu sein. Hatte der Heimgegangene die Augen für immer geschlossen, sofort öffnete man die Fenster, um die Seele himmelwärts steigen zu lassen. Dann wurde ein Sterbelied gesungen. Einer der nächsten Angehörigen sprach ein kurzes Gebet. In der nächsten Mittagsstunde wurden von elf bis zwölf Uhr die Sterbeglocken in drei Abständen – Pulse genannt – geläutet, Bei den Erwachsenen waren die Pulse lang, bei den Kindern kürzer. Aus der Dauer des Glockenläutens konnte man auf das Alter des Verstorbenen schließen.
Die Dorfsitte verlangte es, daß man dem Heimgegangenen einen Leichenschmaus gab – je mehr Gäste man dazu einlud, je mehr Vorbereitungen getroffen wurden, desto mehr wurde er vermißt und betrauert, desto mehr war er von seinen Angehörigen geliebt und geachtet. So fing bald das Schlachten und Backen an. Im Hause, auf dem Hofe und im Keller wurde Tag und Nacht gearbeitet, um mit allen Vorbereitungen fertig zu werden. Keine Ruhe, keine Rast, keine Besinnlichkeit gab es! Wie oft mögen diese Vorbereitungen zu dem Leichenschmaus mit blutendem Herzen verrichtet worden sein. Wenn ein geliebtes Kind, eine sorgende Mutter, ein aufopfernder Vater unmündiger Kinder, für immer gegangen war.
Einen Totengräber gab es im Dorfe nicht. Die Tagelöhner, die zu dem Bauernhof gehörten, hatten dem Verstorbenen die letzte Ehrenpflicht zu leisten. Schon in der Frühe wurde mit dem Grabausschaufeln begonnen. Zu dem Spaten wurden den Totengräbern ein sehr kräftiges Frühstück mit auf den Friedhof gegeben. Oben auf dem Kirchenglockenstuhl standen Beobachter und verfolgten das Grabschaufeln. Bevor die Arbeit ihren Anfang nahm, wurde sie mit dem feierlichen Läuten der kleinen Kirchenglocke eingeleitet, War die Gruft halb fertig, dann wurde mit der großen Glocke geläutet. Währenddessen stärkten sich die Grabschaufler an dem mitgebrachten Frühstück. War die Gruft ganz hergestellt, dann erklangen beide Glocken durch das Dorf.
Bevor der Sarg aus dem Hause getragen wurde, hielt dar Pastor im Beisein der großen Trauergemeinde eine Feier ab, während der Lehrer mit den Knaben der ersten Klasse diese Feier mit dem Gesang von Sterbeliedern umrahmte. Nie kam der Sarg auf einen Wagen, wenn der Weg noch so weit war! Stets trug man den Toten hinaus auf den Gottesacker. Am Grabe fand wieder eine Feier statt. Der Geistliche segnete den Toten ein. Die Knaben sangen ein Sterbelied. Während die Träger das Grab zuschaufelten, verrichtete die Trauergemeinde ein stilles Gebet. Von dem Friedhof begab sich die Trauergemeinde mit dem Pastor in die Dorfkirche. Der Lehrer ging mit den Knaben aufs Chor. Hier hielt der Pastor noch eine kleine Predigt, die je nach der Bezahlung kurz oder lang ausgedehnt wurde. Die einfache Leichenpredigt kostete einen Taler, die mit dem Ruhmeszettel drei bis fünf Taler. In dem Ruhmeszettel wurden alle Ehren, die der Verstorbene genossen, aufgezählt und welche Ämter er bekleidet hatte. Alle guten Eigenschaften wurden besonders hervorgehoben. Eine volle Stunde nach der Totenfeier begann im Trauerhause der Leichenschmaus. Anfangs waren alle Leidtragenden ernst und gedrückt. Aber durch den Genuß des selbstgebrauten Bieres und des Branntweins endete der Leichenschmaus gleich einem fröhlichen Hochzeitsmahle.
Ich erinnere mich noch ganz deutlich einer Beerdigung, die ich in jungen Jahren mit meinem Vater besuchen mußte. Wir gehörten zu den Geladenen. Ein Jungbauer von vierunddreißig Jahren hatte eine böse Lungenentzündung bekommen, die ihn darniederwarf, und von der er nicht wieder aufstehen sollte. Er hinterließ eine dreißigjährige Witwe und vier noch nicht schulpflichtige Kinder, von denen das jüngste fünf Monate alt war.
Nach der Feier auf dem Friedhof und in der Kirche hatte man, nach dem Bauernhause zurückgekehrt, meinen Mantel, Hut und Überschuhe in die Altsitzerstube gebracht, die augenblicklich unbewohnt, nur die unbenutzten Aussteuerbetten und die Leinenvorräte barg. Wir setzten uns an einen der reich- und gutbesetzten Tische, die in den beiden großen Stuben für die Geladenen gedeckt standen. Bald hatten wir den Grund unseres Hierseins bei der anregenden und interessanten Tischgesellschaft vergessen. Um Mitternacht verabschiedeten wir uns voneinander. Schnell, mit lachendem Munde, trete ich über die Schwelle der Altsitzerstube, um mir die Überkleider zu holen. Mein Blick erstarrt bei dem erschütternden Anblick, der sich mir darbot. Die junge Witwe hatte sich hier mit ihren vier vaterlosen Kindern in die abseits liegende Stube zurückgezogen, um nichts von dem lauten Treiben der Trauergäste zu sehen und zu hören. Die Bewirtung hatte sie ihren Leuten übertragen, die von Verwandten beaufsichtigt wurden. Die Witwe saß im Unterrock, das gute Trauerkleid hatte sie, um es zu schonen, abgelegt, und weinte herzbrechend. Das Gesicht war von den vielen Tränen dick geschwollen. Die drei ältesten Kinder umklammern den Schoß der Mutter und starren verstört, verängstigt und todmüde zu der weinenden Mutter empor. Das Kleinste liegt schlafend in den neuen, unbezogenen Aussteuerbetten. Ein Stümpfchen Licht steckt in einer Bierflasche, denn die Lampen hat man alle den Gästen hingestellt. Das Lichtlein flackert unheimlich über dieses herzbewegende Bild hin.
Ich fühle noch heute das Entsetzen, das mich damals bei dem Anblick der trauernden Witwe, umgeben von den kleinen Kindern, durchdrang. Nie in meinem Leben habe ich diesen erschütternden Eindruck vergessen können. Bestürzt stehe ich nun bei der tieftrauernden Witwe und wage vor Scham und Verlegenheit kein Wort des Trostes zu sagen. Ich streiche ihr mehrmals wortlos, mit Tränen in den Augen, tröstend über Schulter und Arm. Nach diesem Erlebnis habe ich mich stets gegen die sonderbare Sitte eingesetzt, ein Festessen geben zu müssen, wenn man einen lieben Angehörigen für immer verloren hat. Aber diese Sitte war auch aus der Notwendigkeit entstanden, den Angehörigen und Freunden, die von weither angereist waren, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen, Speis‘ und Trank anzubieten.
Zur Autorin:
Anna Luise Meschke, geborene Moritz, wurde am 19. März 1872 in Pyritz als Tochter von Karl Friedrich Moritz und seiner Ehefrau Auguste Wilhelmine Seefeld geboren. Am 26. Dezember 1908 heiratete sie in Marwitz, Standesamt Brusenfelde, Kr. Greifenhagen, den in Pobanz, Kreis Bublitz, geborenen Dekorationsmaler August Hermann Carl Meschke. Die Heiratsurkunde bescheinigt, dass Anna zum Zeitpunkt der Eheschließung in Stettin, in der König Albertstraße 35, wohnte und Inhaberin eines Geschäfts war. Dazu gibt das Adressbuch Stettin 1909 die Auskunft, dass sie ein Woll- und Strumpfwaren führte und zudem Tapisseriewaren anbot.
Am 04. März 1934 starb der Eigentümer und Malermeister Karl Meschke in Stettin. Seine Witwe Annaluise (auch AnnaLuise) – wie sie sich inzwischen schreibt – wird noch 1943 im Adressbuch von Stettin als Rentiere und Hausbesitzerin, wohnhaft in der Pölitzer Straße 29a genannt, danach verliert sich ihre Spur.
(Ergänzender Hinweis für Interessierte: „Der Leichenschmaus und seine Geschichte“, Augsburger Sonntagsblatt vom 29.03.1868, MDZ online:
https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10505298_00099_u001?page=6,7&q=%28leichenschmaus+%29)