Ein Beitrag von Hans-Jochen Beilke

 

Vorwort 

Vor ein paar Tagen fand ich einen Reisebericht, der vor 47 Jahren von mir verfasst wurde. Die erste Reise eines Mitglieds unserer Familie nach Arnsberg bei Treptow/Rega. Das Mitglied bin ich, der jüngste Spross, Hans-Jochen Beilke, geboren 1950 in Teterow. Die Eltern hatten sich in Teterow MV provisorisch installiert, nachdem unsere tapfere Mutter am 05. oder 06. März 1945 mit ein paar unserer Leute und Familie aufgebrochen ist in den Westen. Die Wirren der Vertreibung brachte die Familie dann in den Südschwarzwald, wo ich auch sozialisiert wurde! Warum gerade ich, der Jüngste von vier Kindern (die drei Geschwister haben konkrete Erinnerungen an Arnsberg, aber eher weniger Interesse an der Heimat) den Drang spürte, nach Arnsberg zu fahren und unseren Hof zu sehen, war mir lange unklar. Später einmal, ich erinnere mich an meine Kindheit in dem kleinen Schwarzwalddorf, habe ich mir eine Erklärung zusammengebastelt: Wenn ich mit den Dorfkindern in den Bauernhäusern spielte, auf den Heuböden, in den Ställen, in den Wagenschuppen etc., konnte ich nie mit besonderen „Spielplätzen“ aufwarten. Wir hatten eine kleine 3 Zimmerwohnung und halt keine „Vergangenheit“, wie die anderen Dorfkinder. Vermutlich war ich mit dieser Reise auf der Suche nach der Vergangenheit! 

Reisebericht

Am 15.07.1974 fahren wir mit unserem VW Bus los von Reutlingen nach Hannover, wo wir wie immer herzlich empfangen werden. Onkel Otto und Tante Elschen geben uns noch eine Finanzspritze mit auf den Weg! Omi Beilkes Befinden ist gleichbleibend. Sie ist gerührt davon, dass wir vorhaben zu unserem Hof nach Arnsberg zu fahren, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. Unsere Reise geht dann weiter nach Lübeck, wo wir Gerald und Eva abholen, die auch mit einem eigenen VW Bus mitfahren. Die Reise soll über Stettin, Danzig, Helsinki bis zum Nordkap und zurück gehen. Am 19.07. fahren wir in Lübeck los. Die üblichen misstrauischen Grenzkontrollen werden gut durchgestanden. Wir haben Transitvisa und fahren in Lübeck um 17:30 h ab. Die Fahrt geht durch die DDR, die gerade den 25. Jahrestag ihrer Gründung feiert. Überall riesige Plakate zur Feier des Sozialismus. Bis Teterow fahren wir noch bei Tageslicht. Durch die DDR gelangen wir ohne jede Kontrolle. Es lebe der Grundvertrag! Überhaupt wird unser Fahrzeug auf der ganzen Fahrt nicht durchsucht. Weder im Ostblock noch in Skandinavien.

Um Mitternacht erreichen wir die Grenze DDR/Polen bei Stettin. Kalter Wind, ein paar Holzbaracken, Stacheldraht. Alles erleuchtet von ein paar schwachen Funzeln. Ein bisschen gruselig! In Stettin viele Betrunkene. Keiner kann uns den Weg zum Campingplatz zeigen. Wir halten einen Polizeiwagen an und werden dann eskortiert.

Am 20.07. um 08:15 h holen wir Tante Sigrid (Anm.: Schwester meiner Mutter, damals wohnhaft in Torgelow DDR) vom Bahnhof in Stettin ab. So sehen wir sie nach ein paar Jahren einmal wieder. Sie kann im kleinen Grenzverkehr problemlos nach Polen reisen. In Stettin besuchen wir den Flohmarkt, wo vom West Kaugummi bis zu gebrauchter Unterwäsche, Zigaretten, Wodka, … alles feilgeboten wird. Kirchen und Hakenterrassen besichtigt. Alles erscheint recht grau und schmutzig. Das Warenangebot in Polen scheint reichhaltiger zu sein als das der DDR. In Stettin wimmelt es nur so von Ostdeutschen, die sich dort eindecken. Essen ist sehr billig zu haben. Mittagessen für drei Personen im Hotel Continental in Stettin 5,- DM inklusive Getränke.

Am 21.07. geht es dann weiter nach Treptow (Trzebiatów) über Naugard. Fahrtzeit Stettin – Treptow knapp zwei Stunden. In Polen wird der 30. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik gefeiert. Überall Militärparaden und Plakate. Die Eltern hatten mir zu Hause Fotos gezeigt, die meine gute Mutter retten konnte und ich habe schon eine Vorstellung von Treptow im Kopf. Wir schauen uns Treptow, die alte Stadtmauer an, den Grützturm und machen Aufnahmen vom idyllischen Regaufer, der Marienkirche und dem Marktplatz. Zu bemerken ist, dass viele alte Fassaden auf dem Marktplatz sehr gut erhalten sind und restauriert werden. Der alte deutsche Friedhof, wo Opa Linke beerdigt ist, ist eingeebnet. In Treptow essen wir zu Mittag für 3,50 DM für drei Personen.

Wohnhaus der Familie Beilke in Arnsberg, Kreis Greifenberg

Jetzt wird es immer spannender, denn wir machen uns auf zur Fahrt nach Arnsberg. Anhand von Vatis Skizzen finden wir schnell die richtige Straße. Arnsberg heißt jetzt Gorzyslaw. Wir überqueren den Weg, der zum Kleinbahnhof (existiert nicht mehr) führt und fahren über die Regabrücke. Dann ein unbeschrankter Bahnübergang der Schmalspurbahn, deren Schienen noch verlegt sind, die jedoch außer Betrieb ist. Dahinter direkt ein Schild mit der Aufschrift „Nowielice“. Das war Neuhof. Wir denken, das sei wohl zu dicht an Treptow und fahren geradeaus an der Abzweigung vorbei, die nach Arnsberg führt, nach Triebs. Hier fällt uns die alte Kirche mit dem Holzturm auf, der wohl nicht alt ist, oder? Hier in Triebs fahren wir die 1. Straße nach der Kirche rechts ab und gelangen über einen sehr holprigen Feldweg, vorbei an einer deutschen Dreschmaschine von Ködel & Böhm, grasenden Kühen und Pferden zum Rosenort. Aufgeregte Weiterfahrt auf der sich nach links biegenden Straße und wir erblicken an der Gabelung ein verbogenes Ortsschild Richtung ROBE. Die Buchstaben sind nicht mehr gut leserlich, es ist ein Schild, welches aus der Zeit vor dem Krieg stammt! Dann erblicken wir die uns von Fotos bekannte Dorfschule, die sich gegenüber unseres Hofes befindet. Hohe Linden stehen am Straßenrand. Dazwischen, in unserem Vorgarten, eine Bushaltestelle. Wir halten an und gleich werden unsere VW Busse umringt von neugierigen Dorfkindern. Mein Herz schlägt hoch. Von unserem Wohnhaus gibt es nichts mehr. Es sei 1964 abgebrannt.

Wir betreten unseren Hof zwischen einem rechts aufragenden Mauerfragment, welcher der rechte Hofabschluss war und an welchem noch rostige Scharniere, die das Tor getragen haben, zu erkennen sind. Auf der anderen Zufahrtsseite dann der Hügel des abgebrannten Hauses. Der Beilksche Hof war ein typischer vier Seiten Hof, wie fast alle Höfe in Pommern und in Norddeutschland. Links steht noch der gesamte Stallkomplex. Links von vorne: zwei alte, nicht überdachte Plumpsklosetts, davor ein Geräteschuppen mit Pflügen und anderen landwirtschaftlichen Geräten. Dann der 1. Stall, in welchem uns drei Schweine neugierig entgegenblicken. Dann der 2. Stall, der wohl Hühnern als Herberge dient. Anschließend zwei Kälbchen im nächsten Stall. Im vierten Stall stehen Kühe und Pferde und im letzten Stall ist das Wrukenlager. An diesen Komplex schließt sich hinten quer eine riesige Scheune an. Dort finden wir in einer Ecke eine alte deutsche Schrotmühle. In einer anderen Ecke eine alte deutsche Dreschmaschine. Ein paar Meter Gartenzaun, der ein Tor zum Garten hat und anschließend wieder eine Scheune. Dort finden wir einen Mähbinder. Ich denke an das Foto, welches wir haben, Vati auf dem Mähbinder sitzend, von zwei Pferden gezogen, bei der Arbeit! Ob es wohl noch unser Mähbinder ist? Hinten im Garten steht ein alter Nussbaum, der 1939 zur Geburt meines Bruders gepflanzt wurde. Die rechte Stallseite sei vor vier Jahren zusammengefallen, wie man uns sagt. Sie diente damals als Wagenremise und Garage für unseren Opel P4. Vater hatte das erste Auto im Ort. Während Tante Sigrid Heimaterde ausbuddelt, finden wir noch Reste von Keramikplatten eines Ofens, Plattenstücke des Fußbodens der Eingangshalle und ein kleines Stück Kachel des Küchenherdes. Ich habe einen Stein aus der Mauer des Stalles mitgenommen und werde ihn in klares Plexiglas einschweißen lassen. Mein Stück Vergangenheit.

Wir verlassen den Hof und suchen den Friedhof, der jetzt Spielplatz ist. Nach einigem Suchen finden wir das Grab von Hilde Beilke, der aussieht wie neu – nur dass er vom Sockel gefallen war. Viele andere Gräber der linken Friedhofsseite stehen zwischen hohen Büschen und sind umgefallen auf die beschriftete Seite. So können sie von uns nicht identifiziert werden. Die Friedhofspforte ist noch erhalten, wenngleich die eisernen Kreuze verrostet und die beiden Mauerseiten ebenfalls von Büschen umwuchert sind. Wir verlassen Arnsberg, vorbei am Dorfteich, in Richtung Robe. In Deep, an der Ostsee essen wir alle drei im Freien, vor unserem Bus, Abendessen. Gerald und Eva sind nach Danzig vorausgefahren. Wir übernachten in unserem VW Bus auf unserem Hof. Ich bin aufgewühlt und denke daran, dass ich jetzt die gleiche Luft atme, wie meine Familie, die von hier vertrieben wurde. Die Situation hat mich emotional sehr bewegt. Die Menschen, die jetzt hier leben, sind selber Vertriebene. Sie leben unter schwierigen Bedingungen. Feldarbeit wird noch per Pferd verrichtet. Es ist kein Geld da für Beschaffungen irgendwelcher Art. Wir hatten einen schönen Hof. Vater bewirtschaftete 55 ha, was für damalige Verhältnisse ein großer Hof war. Und die Arbeit auf dem Hof hatte wohl zu bescheidenem Wohlstand geführt. Die Dimension des Resthofes lässt darauf deuten. Wenn das Wohnhaus doch nur noch stünde…!!! Tante Sigrid übernachtet im schlecht erhaltenen Nachbarhaus von ehemals Butzlaff, bei „Anna“, einer Ukrainerin, die hierher umgesiedelt wurde. Befragt, was mit unserem Hof denn 1945 passiert sei, berichtet sie, dass in den Wirren des Jahres 1945 eine vertriebene deutsche Familie untergekommen war, für ein paar Monate, bis sie ausgewiesen wurden und nach Ostdeutschland weitergezogen seien. Dann waren wohl Polen auf dem Hof, bis er abbrannte. Ich wusste, dass das Haus, was nicht üblich war, einen Keller hatte und überlege, ob man noch etwas fände, wenn man einen Bagger einsetzen würde …!

Um 06:00 h früh fallen die ersten Sonnenstrahlen auf die Stelle, wo früher das Wohnhaus stand. Dort frühstücken wir, wieder vor dem VW Bus. Wir bringen Tante Sigrid mit dem Zug zum Bahnhof nach Stettin. Er fährt um 07:15 h von Treptow ab und sie muss bis zum Abend auf einen Anschlusszug nach Torgelow warten.

Mit traurigem Herzen und melancholischen Eindrücken geht die Fahrt weiter durch Hinterpommern, vorbei an alten Kirchen und vielen Storchennestern, die es hier noch gibt. Kolberg, Köslin, Gdingen, Zoppot, Danzig. Dort auf die Fähre nach Helsinki und weiter zum Nordkap.

Eines Tages werde ich die Fluchtroute, die Mutti sorgfältig vermerkt hat, abfahren – immer in guter Erinnerung an die tapferste und allerbeste Mutter und unseren Vater!

 

Anmerkung heute: Die Fluchtroute habe ich mit einem Teil meiner Familie vor ein paar Jahren abgefahren. Komfortabel im großen Mercedes – im Gedenken an die Vertreibung