Entstehungskontext und historischer Hintergrund
Die „Baltenschule“ war eine deutsche Privatschule mit angeschlossenem Internat, die 1919 in Misdroy (heute Międzyzdroje in Polen) auf der Insel Wollin gegründet wurde. Ihre Entstehung ist eng mit den dramatischen politischen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg im Baltikum verbunden.
Nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches 1917/18 entstanden neue unabhängige Staaten wie Estland und Lettland. Für die dort seit Jahrhunderten ansässigen Deutschbalten – deutschsprachige Bewohner der baltischen Gebiete – bedeutete dies das Ende ihrer jahrhundertealten privilegierten gesellschaftlichen Stellung. Viele sahen sich zur Flucht nach Deutschland gedrängt, besonders nach der bolschewistischen Revolution und den nachfolgenden bewaffneten Konflikten. Insgesamt nahm Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fast 7.000 deutschbaltische Flüchtlinge auf.

Gründung und Gründerpersönlichkeit
Carl Hunnius (1865-1949), ein deutschbaltischer Theologe und erfahrener Pädagoge, gründete die Schule am 10. Februar 1919. Hunnius brachte ideale Voraussetzungen für diese Aufgabe mit: Er hatte Theologie in Dorpat studiert, seine Ausbildung in Straßburg und Göttingen vervollständigt und war von 1907 bis 1918 Direktor der renommierten Mitauer Landesschule in Kurland gewesen. Vor den revolutionären Umwälzungen musste er Anfang Januar 1919 mit seiner Familie aus Kurland fliehen.
Seine Vision war es, eine Bildungseinrichtung zu schaffen, die mehrere Ziele verfolgte:
- Deutschbaltischen Flüchtlingskindern hochwertige Bildung zu ermöglichen
- Die baltische Kultur und Traditionen zu bewahren
- Deutsche Werte und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu vermitteln
- Eine „heimattreue Gesinnungsgemeinschaft“ zu fördern
Standortwahl und erste Jahre
Die Wahl des abgelegenen Ostseebades Misdroy war bewusst getroffen: Dort lebten bereits zahlreiche baltische Flüchtlinge mit bescheidenen finanziellen Mitteln, und das nächste Gymnasium war weit entfernt. Der pommersche Oberpräsident Georg Michaelis, ehemaliger Reichskanzler, den Hunnius aus Riga kannte, vermittelte den Kontakt zur Provinzialverwaltung.
Die Schule begann bescheiden im Turnsaal des örtlichen Jugendheims mit 42 Schülern in einem gymnasialen und einem realen Zweig. Das rasante Wachstum machte bereits im April 1919 die Nutzung des Ostsee-Hotels und im Winter des Kurhauses erforderlich.

Entwicklung und Konsolidierung
Schülerzahlen und Zusammensetzung
- 1919/20: 158 Schüler (132 Deutschbalten, 26 Einheimische)
- 1919/20 (Ende): 214 Schüler (166 Deutschbalten) – höchste Zahl deutschbaltischer Schüler
- 1922/23: 253 Schüler (118 Deutschbalten) – erstmals Mehrheit von Reichsdeutschen
Finanzielle Herausforderungen und Lösungen
Die Finanzierung gestaltete sich schwierig und durchlief mehrere Phasen:
- 1919-1920: Finanzierung über das Baltenhilfswerk in Stettin
- 1920-1922: Ein Unterstützungsverein, der jedoch der Inflation zum Opfer fiel
- 1922-1925: Übernahme durch das Baltische Rote Kreuz und die deutsch-amerikanische Freikirche in Berlin
- Ab 1925: Stabilisierung durch die Rentenmark und private Spenden

Das „Dünenschloß“ – Herzstück der Schule
1920 konnte die Schule in der Strandstraße das ehemalige „Hotel zum Deutschen Hause“ erwerben. Anfänglich wurden Teile als Wohnungen und Geschäftsräume vermietet. Die Schüler wurden erst im Fremdenheim „Haus Königshöhe“ in der Bergstraße untergebracht. Ein entscheidender Wendepunkt kam 1923: Das Baltische Rote Kreuz erwarb das christliche Hospiz „Dünenschloß“ und schuf damit die räumliche Grundlage für ein vollwertiges Internat. Am 24. November 1923 konnte das Internat in das Schloss übersiedeln, was eine erhebliche Ausweitung und Professionalisierung ermöglichte.
Pädagogisches Konzept und Schulalltag
Die Baltenschule verfolgte ein anspruchsvolles Bildungsprogramm, das traditionelle humanistische Bildung mit spezifisch baltischen und deutschen Werten verband. Der Lehrplan umfasste ein breites Spektrum an Sprachen (Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Englisch und zeitweise Russisch) und orientierte sich an den preußischen Richtlinien für höhere Schulen.
1928 erhielt die Schule das Recht zur Abnahme des Abiturs im gymnasialen Zweig, 1932 auch für den realen Zweig – ein Zeichen ihrer pädagogischen Anerkennung.

Bedeutung und Ausstrahlung
Die Baltenschule entwickelte sich zu mehr als nur einer Bildungseinrichtung. Sie wurde zu einem Zentrum deutschbaltischer Identität im deutschen Reich und spielte eine wichtige Rolle bei der Integration der baltischen Flüchtlinge. Regelmäßige Pfingsttreffen (1921-1932) und Gedenkfeiern stärkten das Gemeinschaftsgefühl und hielten die Verbindung zur alten Heimat aufrecht.
Der gute Ruf der Schule veranlasste Gutsbesitzer aus Pommern, Ostpreußen und Brandenburg ihre Kinder nach Misdroy zu schicken. Vor dem zweiten Weltkrieg waren von ca. 300 Schülern nur noch 7,5 % Balten.
Am prominentesten unter den Schülern war sicher Claus von Amsberg, der spätere Ehemann der Königin Beatrix der Niederlande und für die Pommern der Schriftsteller und Historiker Christian Graf von Krockow. Der 1927 in Rumbske/Kreis Stolp Geborene besuchte die Schule ab dem Alter von 12 Jahren, also ab 1939, bis er im Herbst 1943 zu den Marinehelfern abkommandiert wurde. Er berichtete später über seine Zeit im Dünenschloss: „Der ganze Tagesablauf war militärisch organisiert. Immerfort gab es Appelle, hieß es rennen und antreten, immerfort erschollen die Kommandos, wurde gebrüllt: ‚Stillgestanden! – Richt’ Euch! – Augen geradeaus! – Abzählen!‘“. „Sogar zum Speisesaal wurde im Gleichschritt marschiert“. Krockow stellte zusammenfassend fest, dass in Misdroy Gewalt vor Recht gegangen sei. Gewalt gegenüber Jüngeren sei an der Tagesordnung gewesen, die von älteren Schülern mit Aufsichtsaufgaben ausgeübt wurde.
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Die Schule existierte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Am 31. Dezember 1944 trat Direktor Hunnius zurück, und im März 1945 wurde die Schule angesichts der herannahenden Front aufgegeben. 1946 eröffnete unter Walter von Roth eine Nachfolgeschule in Wyk auf Föhr, die bis 1972 als Internat und bis 1949 als Privatschule den Namen Carl Hunnius‘ trug.
Quellen: Die Baltenschule in Misdroy. Zum einhundertjährigen Gründungsjubiläum 2019. Anfang – Entwicklung – Untergang. Kay von Wedel in: Zeitschrift Pommern Heft 1-2029
Die Baltenschule und das Ostseeinternat Dünenschloß in Misdroy/Pommern 1919 – 1945, Gert von Pistohlkors 2008 in: Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Band2, Böhlau Verlag
Abbildungen und mehr Informationen über die Geschichte von Misdroy finden sich in folgenden Prospekten:
Sommer und Winter-Kurort Misdroy : Seebad und klimatischer Kurort : Insel Wollin : amtlicher Führer der Kurverwaltung Misdroy 1930
https://polona.pl/preview/b97c558f-1b37-4463-82b1-31cca0c956aa
Misdroy : Seebad und klimatischer Kurort : Insel Wollin : Amtlicher Führer 1913
https://polona.pl/preview/9db80d0b-9e69-4f96-901f-f7806473f5c5
100 Jahre Misdroy 1835-1935 : das Seebad aller Jahreszeiten ;
https://zbc.ksiaznica.szczecin.pl/dlibra/doccontent?id=31652