Ein Beitrag von Karla Schmidt
Seit den 90er Jahren habe ich Familienforschung betrieben. In den Jahrzehnten ist, auch durch die Hilfe von Menschen aus diesem Verein, sehr viel Material zusammengekommen. Ordner über Ordner füllen die Regale und die Computerspeicher. Ich habe meine Familie auf eine Weise kennengelernt, wie es ohne diese Forschungsarbeit nie möglich gewesen wäre.
Es stellte sich die Frage aber mit der Zeit, was mit diesem ganzen Material eigentlich passieren könnte und sollte. Das Interesse von jungen Leuten für diese Forschungs-ergebnisse ist sehr häufig nicht – oder jedenfalls kaum – gegeben. Im schlimmsten Falle interessieren sie sich erst dafür, nachdem die jeweiligen Forschenden in der Familie gestorben sind und die ganzen Akten in den Papierschredder verschwunden sind.
Dabei ist genau die Schnittstelle zwischen Familiengeschichte und Weltgeschichte für das Verständnis der Gegenwart enorm wichtig. Unsere eigene Zeit lässt sich ohne die Sicht auf die Vergangenheit eigentlich gar nicht oder nur falsch verstehen. Die relevante Frage ist aber, woher wir das Wissen um die Vergangenheit beziehen. Vieles, was in die Geschichtsbücher Eingang findet, hat Dimensionen, die für den Übergang in persönliche Erkenntnisse so massiv sind, dass Lernende das Wissen auf Zahlen reduzieren und diese nach der Schule schnell vergessen. Wie kann man historisches Wissen so aufbereiten, dass es über das Faktische hinausreicht und Eigenwissen der Einzelnen wird? Die klassische Antwort auf diese Frage lautet: Erzählen.
Als Lehrerin für deutsche Literatur an internationalen Schulen in Deutschland, die keine deutsche Geschichte gelehrt haben, habe ich meine Literaturlisten historisch aufgestellt, um die verschiedenen Epochen der deutschen Geschichte lebendig werden zu lassen. Allerdings fehlte mir immer eine wichtige Zeit, die in meiner Familie eine sehr große Rolle spielte, nämlich die der großen Auswanderungswellen aus Deutschland im 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Mich mit Jürn-Jakob Swehn der Amerikafahrer von Johannes Gillhoff zufriedengeben, wollte ich lieber doch nicht. Da ich und meine Zeitgenossen die Auswanderergeneration noch persönlich gekannt haben, sah ich die Zeit für ihre Erzählung langsam verschwinden und entschied mich dafür, ihre Geschichte wenigstens punktuell so gut wie möglich auf Papier zu bannen. Dabei entschied ich mich für das literarische Mittel der Fiktionalisierung, denn – wie ich häufig gesagt habe – kein Mensch kann seine eigenen Großeltern gut genug kennen, um aus ihnen lebendige Figuren zu machen. Als Nahtstelle zur Weltgeschichte passte mir ihre Rolle als Arbeitskräfte für „Amerika“ gut ins Konzept. So schrieb ich als Beschreibung der Geschichte:
„Wer die Millionen Deutsche und andere Mitteleuropäer waren, die in die USA zwischen 1880 und 1914 eingewandert sind, hat das amerikanische Volk jener Tage eigentlich nicht interessiert. Die Immigranten sollten ein „Was“ und kein „Wer“ sein. Sie sollten sich schnellstmöglich in die Arbeitsprozesse integrieren und sonst unauffällig sein.
Oft ist dieses aktive Desinteresse bis heute lebendig, was die Nachkommen dieser Einwanderer mit so wenig Ahnung über ihre eigene Herkunft lässt, dass sie selbst zu den fremdenfeindlichsten Gruppen der Gegenwart gehören. Der überaus große Assimilationsdruck führte zum Verlust der Erfahrung ihrer Großeltern – was heute eine bedeutsame und hilfreiche Erinnerung wäre, wenn es diese Erinnerung noch gäbe.
Die Geschichte, die hier erzählt wird, basiert auf tatsächlichen Erfahrungen von deutschen Immigranten, auch wenn Johanna und Franz Dorfmoeller im Wesentlichen fiktionale Figuren sind. Die Immigranten, die in die historische Gemengelage der USA in der Zeit zwischen 1913 und 1925 eintraten, wurden mit den Problemen dieser Zeit konfrontiert und mussten sich angemessen zu dieser neuen Welt verhalten. Aus dieser Begegnung wird unsere Welt, wie wir sie vorgefunden haben. Die kurzen Kommentare ihrer Enkelin Caitlyn verbindet ihre Geschichte mit unserer.
Die Erzählung soll diesen Figuren etwas geben, was sie kaum je erlangten: eine eigene Stimme in ihrer Welt. Die meisten deutschen und mitteleuropäischen Immigranten lernten funktionales Englisch nach vielen Jahren, konnten sich aber in der Sprache ihres neuen Landes nie richtig persönlich ausdrücken. Um diesen Ausdruck zu ermöglichen, wurden in der Originalausgabe mögliche deutsche Dialoge in passende englischsprachige Unterhaltungen verwandelt. Auf diese Weise wurde Fiktion benutzt, um den Immigranten des frühen 20. Jahrhunderts eine Stimme zu geben, die sie in der englischsprachigen amerikanischen Öffentlichkeit nie hatten. Das Ergebnis ist eine Innenansicht von Menschen, die den Vorfahren der Hoovers, der Eisenhowers oder sogar der Trumps waren – Menschen, die aus Deutschland kamen und sich sehr schnell „amerikanisierten“, assimilierten bis zur Unkenntlichkeit – bis hin zu der Schreibweise ihres Namens.
Franz und Johanna sind als Prototypen gedacht, die für die ca. 20 Millionen europäischen Immigranten stehen sollen, die in die Vereinigten Staaten zwischen 1880 und 1920 eingewandert sind. Dieser Roman ist ihnen und ihren Familien gewidmet.“
Mit dieser Zielsetzung ging ich ans Werk. Dabei habe ich die Namen von spezifischen kleineren Ortschaften munter erfunden oder mit anderen Ortsnamen getauscht, die die Familiengeschichte hergab. Es sollte kein realer Ort mit fiktiven Details belastet werden. Passende Fakten aus meinen Forschungen wurden zu Erlebnissen meiner Figuren – teils wirkliche Erlebnisse der Modellfiguren, aber auch plausible Erlebnisse anderer Menschen aus ihrer Zeit. Die Gedanken und Überlegungen der Figuren sollten für ihre eigene Zeit passend sein und nicht unbedingt für unsere Zeit politisch korrekt sein. Die Personen sollten keine Übermenschen, sondern nur glaubhafte Menschen ihrer eigenen Zeit darstellen.
Geschrieben wurde die grundlegende Erzählung in etwa 9 Monaten und wurde noch 2017 in der Erstfassung fertiggestellt. Aber wie auch im Falle einer jeden Schwangerschaft: mit dem Ende fing die Arbeit erst richtig an. Da dieser Roman leider vielen Verlagen „nicht ins Programm“ passte (d.h., sie glaubten nicht an die Verkaufsaussichten) und ich daher keinen Verleger fand, hat eine professionelle Editorin in Texas die erste englischsprachige Fassung in etwas bessere Form gebracht. Danach musste ich alles weitere Redaktionelle selbst machen. Dabei habe ich gelernt, womit Redaktionskräfte in Verlagen ihre Gehälter verdienen. Es genügt zu sagen, dass Verlagskräfte ihr Brot schwer erarbeiten und ich eine nur sehr mäßige Lektorin bin! Nach etwa acht Fassungen, war der englischsprachige Roman störungsfreier lesbar. Alle Anführungsstriche saßen, und die „Schwänzchen“, die von den Editorenvermerken übrig waren, waren endlich gefunden und gelöscht.
Dann kam COVID 19. Meine deutschen Freunde hatten sich mittlerweile sehr enttäuscht geäußert, dass der Roman nur auf Englisch verfügbar war. Ich hatte plötzlich viel Zeit. Also machte ich mich an die Arbeit und übersetzte den ganzen Roman während der Lockdowns. Mein Mann hat meine deutsche Sprache redigiert. Im Dezember 2020 war die deutsche Übersetzung fertig für die Veröffentlichung.
Seitdem ist einiges passiert. Unter anderem erschien ein sehr schöner Feature-Artikel im Regionalteil der Zeitung Hannoversche Allgemeine zu dem Roman, und Jana Tittle hat eine wunderbare Besprechung für die Ausgabe Bd. 16, Jg. 67 von Sedina-Archiv geschrieben. Viele Menschen in meiner Umgebung haben den Roman endlich lesen können, was mich besonders freut.
Das alles kann passieren, wenn man beschließt zu versuchen, ein kleines Stück der Geschichte der Vorfahren auf diese besondere Weise lebendig werden zu lassen. Nun lege ich die Geschichte in die Hände von Experten wie die Leserinnen und Leser dieses Blogs. Ich hoffe, sie ärgert möglichst wenig und findet bei möglichst vielen Gefallen.
Der Roman ist bei Amazon erhältlich: https://www.amazon.de/dp/B08RGZH8HW
Bei Facebook gibt es eine kleine Seite unter dem Namen Fair Harbor, die sich mit Elementen der Geschichte beschäftigt.