Erinnerungen an die Familie des jüdischen Schuhmachers Paul Gruschke im Haus  Mittwochstr. 10 in der Stettiner Altstadt

Zu der jüdischen Familie Gruschke, die in der Übersicht „Welche Stettiner Geschäfte sind jüdisch?“ fälschlich Grußke genannt wurde, hat uns unser aufmerksamer Leser Lothar Lentz, der im selben Haus aufwuchs, seine Erinnerungen zugeschickt. Für die Überlassung und Genehmigung zur Veröffentlichung danken wir sehr herzlich.

Die Familie des Schuhmachers Paul Gruschke wohnte in der Mittwochstr. 10 der Stettiner Altstadt. Die Straße führt direkt vom Stettiner Schloss hinunter zum Bollwerk (heute ul. Środowa)

Kartenausschnitt Stettiner Altstadt, Foto via sedina.pl, bearbeitet
Mittwochstr. in der Stettiner Altstadt, Kartenausschnitt  via sedina.pl, bearbeitet

AB Stettin
Mittwochstr. 10 laut Adressbuch Stettin 1936, S. 105, via ksiaznica.szczecin.pl, bearbeitet

Mittwochstraße 10 – das waren 15 Familien und exakt 54 Personen – Weiblein, Männlein, Kinder, Christen und Juden, auch Nazis – von jedem Etwas. Das Haus war ein fast schmuckloser grauer fünfgeschossiger Steinkasten, mit Kellern, die oft unter Wasser standen, und Hinterhof-Wohnung, samt Remisen, Waschküche und 2 Toiletten auf dem Hof für 15 Familien (eine davon ausschließlich für den Hauswirt). Vom Grundriss fast L-förmig mit einem Rechtsknick am langen L-Schenkel. Der kurze Schenkel zur Straße hin mit Blick auf Krautmarkt, Schloss und Bollwerk – hier hatten zwei Wohnungen alle Fenster zur Straße. Küche und Flurfenster einer der beiden Wohnungen gingen zum Hof. Im langen Schenkel befand sich die dritte Wohnung, ein langer Schlauch, der hinten, dem Hof zu, noch den Rechtsknick machte; die Fenster hier gingen sämtlich zum Hof.

Mittwochstr. 10, via sedina. pl, bearbeitet
Mittwochstr. 10, via sedina. pl,  gekennzeichnet durch Herrn Lothar Lentz

Ich erinnere mich noch recht gut an die meisten Familien; nicht so gut aber an jede einzelne Person.

Unten zu ebener Erde, neben dem düsteren Schlauchflur „wohnten“ die Gruschkas. Ihr Quartier hatte nur ein einziges, riesiges Fenster, ein Schaufenster. Es war halb mit Farbe gestrichen, einem gräulichen Weiß. Im Fenster saß Vater Gruschka, pinkerte von früh bis spät, flickte Schuhe, klobige und moderne, Schuhe für Männer und Frauen und Kinder, Lackschuhe und auch Stiefel. An einem langen Kabel hing über seinem Schusterplatz eine Birne und spendete dem unermüdlichen „Hans Sachs“ ein wenig Licht, wenn er gebeugt über dem Dreifuß saß. Anders habe ich ihn kaum in Erinnerung. Die Hände immer geschwärzt von Pech und Schuhkrem (bei Gruschka bekam man nämlich seine Schuhe immer blitzblank gewienert zurück), die Finger rissig und zerstochen, vom Fadendrehen und von der Ahle.

Die Gruschkas waren trotz des Handwerks arme Leute. Das Schustern nährte gerade die Familie. Ansonsten aber war Gruschka immer guter Dinge, freundlich und lustig. Sein Deutsch klang etwas „gebrochen“ – Gruschka war eigentlich Pole. Und das war schon ein Fehler, ein Manko im 3. Reich. Aber damit noch nicht genug, er hatte noch einen Makel – er war Jude! Im Hause störte das Niemanden. Nicht einmal den SA-Mann oder gar den SS-Mann, die beide ihre Stiefel bei ihm besohlen, Koppel und Schulterriemen reparieren ließen und für ein paar Pfennige alles auf Hochglanz poliert und schnell zurückbekamen – auch sonntags. Gruschka übrigens störten die beiden auch nicht: Sie waren zahlende Kunden und Hausbewohner! Und für die Hausbewohner besohlte er auch mal „hinten rum“ sonntags, weil’s eilte; wenn vielleicht der Absatzfleck bei den Hochhackigen der Frau Hauswirtin Hensel lose war oder SS-Mann Hippler zum Dienst musste aber die Eisenspitzen locker waren.

Gruschka brauchte jeden Pfennig: Sechs hungrige Mäuler sollten gestopft sein! Wenn man Schuhe besohlen lassen wollte, musste man erst in Gruschkas fensterlose Küche, dann durch ein gleichfalls fensterloses Zimmer, in dem die sechs wohnten und schliefen und dann erst war man in der Schusterwerk- statt. Regale voller Schuhe; Bürsten, Lappen, Pfriem, Ahle, Pechzwirn. Schuhcremes, Lederfett, der Dreifuß, eine einfache Nähmaschine und ein ewiger Geruch nach Leder, Schuhwichse und Essen. Mir kam, wenn ich zu Herrn Gruschka Schuhe brachte, immer der Kinderreim in den Kopf: „Im Keller ist es duster, da wohnt ein armer Schuster….“. Wobei der  V e r s  ja einen guten Ausgang hat: „Wie kann’s im Keller duster sein, da scheinen Mond und Sonne rein“, was bei Gruschkas völlig fehlte.

Freundlich und immer ein nettes Wort auf den Lippen; das war Frau Gruschka, die wenig zwar in Erscheinung trat, sich aber unermüdlich für die Familie schaffte.  Die vier Kinder – auch meine Spielkameraden – waren wie alle anderen: Morgens sauber gewaschen und gekämmt, ordentlich gekleidet, nicht nach der neuesten Mode und meist auch mit Geflicktem, und abends hatte die Frau dann ihre liebe Not, bis zur nächsten Frühe alles wieder „ins Lot“ zubringen. In der Schule waren die kleinen Gruschkas nicht sonderlich. Aber wie sollen denn vier quirlige Göhren in einem finsteren, stickigem Zimmer, zwischen Gehämmer und Geschirrklappern, Leder- und Essengeruch auch noch ordentlich lernen und Hausaufgaben machen können?

Und eines Tages war das dann alles vorbei. Im letzten Friedensfrühjahr muss es gewesen sein. Im Radio und aus den Zeitungen war gerade zu erfahren, in Polen drangsaliere man immer mehr die „Volksdeutschen“, in Graudenz, Posen, Bromberg, Thorn, in den „uralten deutschen Gebieten“… Die Birne in Gruschkas Laden baumelte am Kabel wie ein Toter an einem Galgen, kein Hämmern mehr, kein Stimmengewirr der Gruschka-Kinder, nichts von der Frau! – An der Tür nur zwei blutrote Pladratschen mit einem schwarz- weißroten Faden verbunden – versiegelt ! „Abgeholt“ flüsterte man sich im Haus zu. „Lager“, „KZ“. Wir Kinder – acht-, neun-, zehnjährig – wussten damit kaum etwas anzufangen. Die Großen wichen Fragen aus oder beschwichtigten: „Fragt nicht so viel, das versteht ihr doch nicht.“ „Das muss so sein.“ „Juden und Polen sind unser Unglück“. Was aus den Gruschkas geworden ist – ???

Zu der Zeit war die andere jüdische Familie im Haus – die Kowalewskis – längst weg. „Wir wandern nach Palästina aus“, hatten die beiden schwarzlockigen Kowalewski-Sprößlinge uns beim Spielen erzählt. Ihr Vater war kleiner Bank- oder Versicherungsangestellter, wohl mit ein paar Ersparnissen, gab sich, wie auch seine Frau, betont unauffällig im Haus, grüßte jedermann und ließ jedermann den Vortritt. Mit uns durften die Jungs spielen. Wir waren zwar Christen- oder auch Nazi-Kinder – aber wir waren Deutsche. Nicht so mit den Gruschka-Kindern. Das waren zwar auch Juden, aber keine richtigen Deutschen, Polen und dazu noch arme Schlucker.

Gruschkas Werkstattwohnschlauch blieb leer. Als kurz vor Kriegsbeginn der Luftschutzkeller ausgebaut werden musste, wurde dort allerhand Schurrmurr, unbrauchbares Zeug, gelagert. Die Nachmieter der Kowalewskis sind mir kaum in Erinnerung. Eigentlich nur nebelhaft der Mann, der mit allen rumpolterte, meist nach Schnaps roch und dazu noch oft in einer braunen Uniform herumlief.

Nachtrag: Der Buchhalter Len(t)z in der 3. Etage ist mein Großvater. Einige Mieter sind dann Ende der 30er ausgezogen, z. B. 4. Etage Kopplin und Heßmann, dafür kamen dann Hippler (das war der SS-Mann, der Stiefel, Koppelzeug usw. immer bei Gruschka „aufmöbeln“ ließ) und Stichert. In der 2. Etage kamen dann die Damen Dunskus. An Mieter Miske habe ich keine Erinnerungen en Detail. Dass ich den Mieter Kowalewsky als Bank- oder Versicherungsangestellten angesehen habe, habe ich aus Bemerkungen von Großeltern, Eltern und Nachbarn aufgeschnappt.

Über den Verbleib der Familie Paul Gruschka/Gruschke ist nichts weiter bekannt. Die Namen des Kaufmanns  Josef (Josse Rubin) Kowalewsky/Kowalewski, seiner Frau Anna, geb. Kulik und die der Söhne Jacob und Erich Efraim stehen in der Lubliner Transportliste. Sie wurden 1940 ins Ghetto Piaski deportiert.