Ein Haus im Herzen der Stadt
Bereits seit 1821 besaß die jüdische Gemeinde Schivelbeins eine Synagoge, die „59 Jahre hindurch die Schivelbeiner Juden bei freudigen und schmerzlichen Anlässen aufgenommen“ hatte. Das Gotteshaus lag zentral in der damaligen Neustadt – der späteren Glasenappstraße – schräg hinter der Marienkirche, und nur wenige Schritte vom Schivelbeiner Marktplatz entfernt.
Diese Lage im Herzen der Stadt war keineswegs selbstverständlich. Die Entscheidung, die Synagoge nicht – wie in vielen anderen deutschen Städten jener Zeit – verborgen in einem abgelegenen Viertel zu errichten, sondern in Nachbarschaft zur christlichen Kirche, zeugt davon, dass jüdisches Leben in Schivelbein als selbstverständlicher Bestandteil der städtischen Gesellschaft galt.

Viele Jahre hatte das alte Fachwerkgebäude seinen Dienst getan. Doch mit dem dem fortschreitenden baulichen Verfall und dem Wachstum der jüdischen Bevölkerung wurde ein Neubau Mitte des 19. Jahrhunderts unausweichlich. Man war sich einig: Für die mittlerweile rund 400 Gemeindemitglieder sollte ein würdiges, repräsentatives Gotteshaus entstehen.
Der geplante Neubau sollte nicht nur den religiösen Bedürfnissen der Gemeinde entsprechen, sondern war vermutlich auch Ausdruck der Emanzipationsbestrebungen und des gesellschaftlichen Aufstiegs der jüdischen Bevölkerung im kaiserlichen Preußen. Das neue Gotteshaus stellte daher wohl weit mehr als einen Raum für den Gottesdienst dar – es sollte wahrscheinlich zugleich das Streben nach Gleichberechtigung und Anerkennung im öffentlichen Leben verkörpern und als sichtbares Zeichen des Selbstbewusstseins und des Stolzes der jüdischen Gemeinde dienen.
Opferbereitschaft und architektonische Pracht
Der Neubau in repräsentativer Ausführung kostete Geld – viel Geld – und die Gemeinde musste, wie es hieß, „bedeutende Opfer“ bringen, um das Projekt zu verwirklichen.
Zunächst musste das vorhandene Baugrundstück erweitert werden. Der Schivelbeiner Kaufmann Salomon Ephraim Jacobus erwarb ein angrenzendes Areal mit Wohnhaus, Garten und Hofräumen, das er der Synagogengemeinde großzügig schenkte.
Doch auch viele andere Gemeindemitglieder griffen tief in die Tasche, um den Bau des Gotteshauses zu ermöglichen. Die Baukosten beliefen sich schließlich 51.000 Mark– nach heutiger Kaufkraft fast 400.000 Euro. Um diese Summe aufzubringen, waren hohe Mitgliederbeiträge von teils bis zu 165 Prozent der Einkommenssteuer erforderlich.
Als die Finanzierung schließlich gesichert war, konnte am 26. Mai 1879 die feierliche Grundsteinlegung stattfinden. Nur eineinhalb Jahre später war das neue Gotteshaus vollendet – und es war, wie der Stettiner Rabbiner Dr. Vogelstein in seiner Einweihungspredigt betonte – „eine Zierde dieser freundlichen Stadt geworden“.
Die hohe Hauptfassade fiel schon von weitem ins Auge. Eine große Rosette und ein hervorgehobenes Eingangsportal verliehen dem Bau eine prägnante Gestalt. Über dem Eingang prangte die Inschrift: „וְעָשׂוּ לִי מִקְדָּשׁ, וְשָׁכַנְתִּי בְּתוֹכָם“ – Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, damit ich in ihrer Mitte wohne (Exodus 25,8).
Seitlich ließen zwei Reihen von Fenstern Licht in das Innere strömen. Die kleinen runden Scheiben sorgten vermutlich für ein sanft gefiltertes, festliches Licht im Innenraum. Maurische Elemente wie Hufeisenbögen und zierliche Türmchen mischten sich mit gotischen und romanischen Formen. So war ein Backsteingebäude mit einem eigenen, unverwechselbaren Charakter entstanden – eine Verbindung jüdischer Symbolik mit den Formen europäischer Baukunst.
Die Synagoge war von einem kleinen Garten umgeben. Zwischen den Bäumen ragte das Gebäude weithin sichtbar auf und prägte das Straßenbild. Ein Eisenzaun trennte es von der Straße, blieb jedoch offen genug, um Gemeindemitglieder und Gäste willkommen zu heißen.
Vom Innenraum ist ein Photo des zentralen Thoaraschreins, des Aron haKodesch, erhalten, der traditionell an der Ostwand stand. Es zeigt einen geöffneten Schrein, eingerahmt von jeweils zwei Säulen an jeder Seite unter einem Rundbogen, über dem ein Davidstern prangt. Auf der Aufnahme sind helle Wände, silberne Leuchter und Tafeln an den Wänden zu erkennen, eventuell Gedenktafeln für Gefallene des Ersten Weltkriegs oder Stiftungstafeln. Schriftliche Quellen erwähnen außerdem ein Harmonium für die musikalische Begleitung, die ewige Lampe, einen kostbaren Vorhang, der den Thoraschrein bedeckte, sowie Thoramäntel, die die heiligen Rollen umhüllten.

Vieles deutet darauf hin, dass die Synagoge über eine Empore verfügte – charakteristisch für Synagogenbauten des 19. Jahrhunderts im mitteleuropäischen Raum. Die zweigeschossige Fassade mit den hohen Fenstern im Obergeschoss sowie die Größe der Gemeinde und ihr entsprechender Platzbedarf stützen diese Annahme. Vermutlich war die Empore den Frauen vorbehalten.
Alles in allem lässt das überlieferte Bild einen Ort ruhiger Würde vermuten, in dem sanftes Licht und bürgerliche Eleganz die Atmosphäre prägten.
Am 2. Dezember 1880 wurde der neue repräsentative Mittelpunkt jüdischen Lebens in Schivelbein feierlich eingeweiht. Die ewige Lampe wurde entzündet, die Thorarollen in die heilige Lade gestellt und dann hielt Rabbiner Dr. Vogelstein aus Stettin die Einweihungspredigt.
Zwischen Blütezeit und Bedrohung
Über viele Jahrzehnte war die Synagoge das geistige und gesellschaftliche Zentrum der jüdischen Gemeinde. Sie diente, wie es Prediger Rackwitz 1898 ausdrückte, zugleich als „ein Versammlungsort, ein Tempel oder Bethaus, eine Schule oder ein Lehrhaus“. Lehrer, Kantoren und mit Dr. Karl Richter zuletzt auch der Bezirksrabbiner wirkten hier und prägten das religiöse Leben nachhaltig.
Doch schon früh wurde das Gotteshaus Ziel antisemitischer Angriffe. Ein Bericht aus dem Jahr 1894 schildert die Ereignisse: „Schon zu wiederholten Malen sind von jungen Burschen die Fensterscheiben in der Synagoge, an Straßenlaternen u.s.w. eingeworfen worden. Jüngst traf ein solcher Wurf ein Synagogenfenster während des Gottesdienstes und zertrümmerte es. Ueberhaupt scheint es, als ob sich die Burschen insbesondere jüdisches Eigentum für ihre Zerstörungswut ausersehen haben.“ Berichte über Zerstörungen während der Schivelbeiner Exzesse im August 1881 sind nicht überliefert – doch ist anzunehmen, dass auch die Synagoge betroffen war.
Im Oktober 1910 brachen Unbekannte in das Gebäude ein. Sie stahlen den Vorhang des Thoraschreins, Thoramäntel und Silbergeräte im Wert von etwa 1000 Mark. Ein Teil der Gegenstände wurde ein Jahr später bei Reinickendorf nahe Berlin wiederaufgefunden, der Rest blieb verschollen.
1931 feierte die Gemeinde das 50-jährige Bestehen ihrer Synagoge. Angesichts der wirtschaftlich schwierigen Zeit verzichtete man auf eine große Feier und beendete den Festgottesdienst lediglich mit einem gemütlichen Beisammensein. Zuvor hatte man es sich aber nicht nehmen lassen, das Gebäude renovieren und mit einem neuen Anstrich versehen zu lassen.
Für den Mühlenbesitzer Max Salomon, der mehr als drei Jahrzehnte an der Spitze der Gemeinde stand, wurde das Synagogenjubiläum zum letzten großen Fest seines Lebens. Ein Jahr später, am 17. März 1932, starb er. In seiner Festrede hatte er Gottes Segen für Synagoge und Gemeinde erfleht – ein Wunsch, der sich keine sieben Jahre später zerschlagen sollte.
Das Ende
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 stand die Synagoge, das Zentrum jüdischen Gemeindelebens in Schivelbein, in Flammen. Gemeindemitglieder eilten herbei, um ihr Gotteshaus zu retten, doch sie wurden daran gehindert und verjagt. Die Feuerwehr beschränkte sich darauf, ein Übergreifen der Flammen auf die Nachbarhäuser zu verhindern. Kurz darauf wurden die verbliebenen Mauern gesprengt und die Steine zur Ausbesserung von Wegen verwendet. Von dem ehrwürdigen Bau blieb nichts zurück.

Dr. Siegbert Meyersohn, Max Salomons Schwiegersohn und neuer Vorsitzender der Synagogengemeinde, Max Ehrenberg, der Kantor und Religionslehrer sowie weitere hochangesehene Gemeindemitglieder wurden verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen nördlich von Berlin deportiert.
Für das verwüstete Gelände in bester Innenstadtlage ließ sich die Stadt 1940 als Eigentümerin ins Grundbuch eintragen. Anstelle des Gotteshauses plante sie den Neubau des Rathauses, was jedoch nie realisiert wurde. Stattdessen legte man einen Dahliengarten an, in dem die nichtjüdischen Schivelbeiner fortan flanierten. Juden lebten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Schivelbein. Gauleiter Franz Schwede-Coburg, ein glühender und übereifriger Nationalsozialist, hatte sein Ziel erreicht und Pommern als ersten Gau des Reiches für „judenfrei“ erklärt.
Schivelbeiner, die später vertrieben wurden, trugen in ihre handgezeichneten Stadtplänen noch immer die Synagoge ein – als wäre sie nie verschwunden. Doch aus der „Zierde dieser freundlichen Stadt“ war ein leerer Platz geworden.

Die Version mit Quellen- und Literaturangaben findet sich hier: „Eine Zierde dieser freundlichen Stadt“ – Die Synagoge von Schivelbein



