Fortsetzung von Teil I siehe hier
Ein Gastbeitrag von Wolfram Stratmann
Erzählungs-Fragmente zum Familienleben in Stettin:
Man muss sich bei der Lektüre vergegenwärtigen, dass es sich hierbei um „Hörensagen“ über mündliche teilweise versehentlich spontan geäußerte Informationsfragmente von Gisela handelt. Die geschilderten Ereignisse sollten möglichst mittels zweier Quellen verifiziert werden.
Eine halbwegs zusammenhängende Erzählung weist auf die Großeltern in Altdraheim hin. Gisela berichtete mehrfach:
Unser Vater hat uns als Kinder mit zu den Großeltern genommen. Unsere Oma hat sich sehr gefreut. Die haben in einem Gut gewohnt. Der Opa fing Streit an. Es gab so viel Ärger, dass wir schnell wieder abreisen mussten. Der Opa war der neue Mann von Oma. Sie hatte den geheiratet, als ihr erster Mann nicht aus dem Krieg zurückkam. Er wollte unseren Vater und uns dort nicht haben.
Zumindest aus Sicht des Lebens in Stettin lässt sich vermuten, dass die Ursprungsfamilie von Karl in Altdraheim, nach dem Ende des ersten Weltkriegs zerfallen ist und der Kontakt auf ein Minimum reduziert war. Die Eltern väterlicherseits (also unsere Urgroßeltern in Altdraheim, insbesondere unsere leibliche Urgroßmutter) hatten deshalb wohl wenig Einfluss auf die Familie unserer Großeltern und auf unsere Mütter in Stettin.
Ein Erzählfragment von Gisela weist allgemein auf Großeltern mit Boot hin. Diese sollen Gisela und eine Schwester im Beiboot ihres Kajütbootes auf der Oder Richtung Swinemünde und auf dem Haff hinterher gezogen haben. Im Beiboot waren die Mädchen, weil sie sich an Bord dauernd zankten. In das Boot bekamen sie auch belegte Brote gereicht. Davon schwärmte Gisela öfter. Gisela konnte nicht sagen mit welcher Schwester sie im Boot saß.
Diesen Informationsschnipsel würde ich in die Zeit um 1936 einordnen. Immerhin kann man damit Gisela eine gewisse Bootserfahrung nachsagen. Allerdings erwähnte Gisela nicht, welche Großeltern das waren oder ob es Urgroßeltern gewesen sind. In Frage kommen wohl nicht die Marquardts aus Altdraheim, vielmehr könnte es sich um die Familien Balk oder Wodtke handeln, weil diese in der Gegend wohnten. Wodtke ist der Geburtsname von Ritas und Giselas Oma Mathilde Balk. Meine Recherche zeigte Fischer mit den Familiennamen. Wegen Datenmangel musste ich es dabei belassen.
Erzählfragment zum unternehmerischen Leben in Stettin:
Die für Stettin gefundenen Adressbucheinträge stimmen nicht ganz überein mit dem was Tochter Gisela später vom Leben in Stettin, in ihrer Familie, erzählte:
Man hatte einen Kolonialwarenladen. Sie und Rita hätten darin im Verkauf ausgeholfen.
Eine andere Bemerkung von Gisela lässt vermuten,
dass diese Hilfsarbeiten stattfanden als die Mädchen etwa 14 und 16 Jahre alt waren, und dass Rita diese Tätigkeit nicht so erstrebenswert fand.
Ein anderes Mal erzählte Gisela,
meine Eltern hatten mehrere Läden.
Es mag sein, dass die Mädchen einmal das Geschäft übernehmen sollten und Rita ihre Schulausbildung nicht vorzeitig abbrechen wollte. Was auf einen üblichen Nachfolgekonflikt hindeuten würde. Möglicherweise waren die Eltern auch konservativ eingestellt und auf einen zum Betrieb passenden Schwiegersohn aus. Der Anspruch kann Druck auf die Mädchen ausgeübt haben.
Die Recherche zu „mehrere Läden“ fächerte sich ohne Belege zu weit auf, sodass ich davon abließ.
Ein Erzählfragment von Gisela beschreibt die Zahlungsprobleme während der Kriegszeit:
Wir mussten viel anschreiben, weil die Leute kein Geld hatten und sonst verhungert wären. Wenn wir das Geld bekommen hätten, dann wären wir reich gewesen.
Daraus lässt sich aus heutigem Blickwinkel eine gewisse soziale Verantwortung ableiten.
Die Forderung der Mutter an die Mädchen, im Geschäft zu arbeiten, kann rechnerisch begonnen haben, als Vater Karl in den zweiten Weltkrieg zum Kriegsdienst eingezogen wurde und nun seine Arbeitskraft im Betrieb fehlte. Männer im Alter von Karl, er war im Jahr 1941 neunundvierzig Jahre alt, wurden gemäß anderen Quellen wegen dem Mangel an jungen Soldaten üblicherweise ab dem vierten Quartal 1941 eingezogen.
Eine weitere Vermutung aus den familiären Erzählfragmenten:
Rita muss irgendwo in Stettin brasilianisches Portugiesisch gelernt haben. Sie verdiente nach dem Krieg in Bremen ihr Geld mit dem Schreiben von brasilianischer Geschäftspost. Für mich fielen dabei brasilianische Briefmarken ab.
Dazu gibt es einen nüchternen Kommentar von Gisela:
„Rita durfte länger zur Schule gehen als ich.“
Die Recherche zeigte einige weiterbildende Schulen und Berufsfachschulen in Stettin. Dort gab es auch Sprachunterricht. Ob Rita in Stettin zur Universität ging ist nicht bekannt. Ritas Besuch einer Sprachenschule nach dem Krieg in Bremen ist mir ebenfalls nicht bekannt.
Sie schenkte möglicherweise ihrem Schwager Karlheinz, der nach Brasilien auswandern wollte, in Delmenhorst ein kleines brasilianisch Lehrheft und ein Karteikarten Lernsystem. Beides schien aus den 1930er/40er Jahren zu stammen, wie mir ein Brasilianer in den 1990er Jahren erklärte. Er dichtet in Brasilianisch und Deutsch, übersetzt Romane und hat seine Einschätzung anhand der in diesem Lernmaterial gebrauchten alten Ausdrücke und Floskeln begründet. Die Recherche zu Ritas Sprachausbildung musste ich leider wegen Datenmangel abbrechen.
Wenn das mit dem Brasilianisch-Lernmaterial stimmt und wenn man die hier nicht näher beschriebene Sache mit den geretteten Sparbüchern berücksichtigt, dann haben die drei Marquardt-Frauen aus Stettin doch mehr als überhaupt nichts gerettet.
Gisela hatte später immer wieder erklärt:
„Wir haben aus Stettin nichts mitnehmen können. Keine Fotos keine Urkunden. Alles ist verbrannt“.
Gelegentlich ergänzte sie in den 1950er und 60er Jahren:
„Ich habe auch keine Geburtsurkunde. Ich habe eine beantragt, aber bisher keine bekommen.“
Dieses und die behördliche Auskunft, Ida und Karl Marquardt hatten keine Kinder, führte zu Irritationen bei der Ahnenforschung.
Mit der Überlegung zu den Mitbringseln lässt sich noch eine weitere Perspektive erkennen. Wenn die Marquardt-Frauen Sachen aus Stettin mitnehmen konnten, dann müssen sie rechtzeitig geflohen sein denn, wenn sie nichts mitnehmen konnten, dann wären sie vertrieben worden. Vertriebene hatten in der Regel gar nichts mehr, nicht einmal vollständige jahreszeitangepasste Kleidung. Fliehen konnte man bis Anfang April 1945, vertrieben wurden Deutsche danach. Das lässt sich aus der Militärgeschichte ableiten.
Einen weiteren Ansatz zum Familienleben in Stettin zeigt folgende Begebenheit zur Berufsausbildung von Gisela:
Im Hamburg der 1970er Jahre wurde mir familiär erklärt, Gisela hätte eine Lehre als Hutmacherin absolviert, deshalb besitze sie herausragende künstlerische Fähigkeiten und habe sich nun endlich der Malerei zugewandt. Zum Beweis zeigte man mir ihre Hinterglasmalereien. Das nahm ich positiv erstaunt zur Kenntnis, weil ich bis dahin nie etwas über Giselas Schul- und Berufsausbildung gehört hatte. Als ich das Thema aus Interesse Jahre später wieder ansprach, wurde alles dementiert.
So blieb mir die ursprüngliche Motivation für diese Erzählung unbekannt und auch ob Gisela zwischen ihrem 14. und 20. Lebensjahr irgendeine Ausbildung absolvierte. Meine Recherche zu Handwerksrolleneinträgen blieb erfolglos.
Hinsichtlich einer durchaus üblichen zeitgeistmäßigen Ausbildung von Gisela ist eine weitere Begebenheit vom Anfang der 1990er Jahre erwähnenswert. Damals unternahmen wir anscheinend auf die Anregung von Gisela hin einen Nostalgieausflug in die Gegend ihrer Jugend. Während der Fahrt entwickelte sich ein familientypisches Verhalten. Weil sich so ein Verhalten immer wieder zeigte, wenn es um die Vergangenheit von Gisela ging, schildere ich es hier beispielhaft. Die Summe von Giselas Erzähl-Fragmenten, sowie der Ortsbesuch auf Usedom mit ihr, einem Bruder und mir ergab:
Gisela war im BDM engagiert und über ihr achtzehntes Lebensjahr hinaus in dessen Ausbildungslagern. Sie berichtete von einem Lager oberhalb von Ahlbeck auf Usedom. Auf der Insel angekommen zeigte sie uns den Zu-Weg zu diesem Lager und eine Landstraßenkurve in der sie mit einem Fahrrad, wegen abgesprungener Kette und fehlender Bremsen, einen kleinen Unfall hatte. Hinsichtlich der unbefangenen Fragen reagierte sie auf Usedom immer einsilbiger. Noch in Ahlbeck bestritt sie alles, was sie je über Usedom erzählte. Rhetorisch wusste sie auch nicht mehr, weshalb ich sie dahingefahren hatte. Dann schwieg sie während der dreihundert Kilometer Rückfahrt. Sie konnte sich danach von mir als Fahrer nicht verabschieden und ging wortlos.
Soweit dieses familientypische Verhaltensmuster.
Giselas Verhalten fördert den widersprüchlichen Verdacht, sie wollte etwas verbergen.
Die Recherche ergab: Nach den damaligen Richtlinien kamen in dem Alter von Gisela (>18) nur Nazi-Ausbilderinnen in solche BDM-Lager. Deren Aufgaben zur Ausbildung der jungen Mädchen werden detailliert beschrieben. Dabei ging es hauptsächlich um Disziplin, Hausfrauenfertigkeiten, die nazi-linientreue Gebärpflicht, die Praxis bei der Erziehung der Säuglinge und Kleinkinder nach den Regeln des Lehrbuchs von Dr. Johanna Haarer, und um die Erkennung von Untermenschen, sowie deren vorschriftsmäßige Entsorgung im Sinne der Volkshygiene nach dem Ehegesundheitsgesetz. Für eine geschlechtliche Verbindung zwischen einem Arier-Mädchen und einem Untermenschen wurden beide mit dem Tode bestraft. Deshalb war diese Ausbildung für das soziale Leben der jungen Leute sehr wichtig. (vgl. einschl. Nazi-Literatur und Gesetze. Deren kritiklose inhaltliche Beschreibung ist in der BRD eine Straftat. Der Handel mit den Originaltexten, bzw. deren Verbreitung ist verboten. Auch mein Text ist ausschließlich als warnender Hinweis auf die menschenverachtende Nazi-Ideologie gedacht.)
Das BDM-Lager ist weg, die Erinnerung auf Usedom auch. Nur ein unvoreingenommener Ahnenforscher am Bodensee, der vereinsmäßig für Usedom zuständig war, bestätigte die Lage des Lagers im Wald. Verzeichnisse über Ausbildungslager des BDM fand ich bisher nicht. Zeitzeugen aus dem Ruhrgebiet berichten über ihre Landverschickung als Schüler nach Ahlbeck. Das geschah zum Schutz vor Bombenangriffen. Diese Jungen wohnten alle im Ort Ahlbeck in den Villen und nicht oberhalb des Ortes im Wald in einem Lager.
Möglicherweise erinnerte Gisela auf Usedom die tatsächlichen Ereignisse im Lager oder Kriegserlebnisse in Stettin und reagierte nach fast fünfzig Jahren verschlossen. Giselas Verhalten blieb ungeklärt.
Fortsetzung folgt.