Ein Gastbeitrag von Wolfram Stratmann
Der nur noch halbumtriebige ehemalige Kunststudent jongliert mit Projektideen, um von seinen altersbedingten Erbsenzähler-Neigungen abzulenken. Mach doch einen Film. Das ist heute leichter als früher, weil die Fummelei mit den kilometerlangen Zelluloid-Streifen wegfällt. Eine Dokumentation, oder eine Mockumentary käme in Frage. Letztere ist eine fiktive Dokumentation über irgendeinen scheinbar wahren Unsinn. Das macht mehr Spaß. Eine Idee zu einer Geschichte ist da. Das grobe Konzept für die Doku oder Mocku könnte etwa so aussehen:
Eine Familiengeschichte aus zwei drei oder vier Staaten, die sich auf dem Gelände einer Region tummeln. In der Region ist eine Stadt, aus der eine Frau abhauen muss. Unterwegs heiratet sie einen Mann, der selbst unterwegs in die weite Welt ist, aber aus einer anderen Stadt kommt. Die Ehe geht schief und wird nach 32 Jahren geschieden. Die Flucht der Frau endet erst nach 33 Jahren. Ihren Ehering und den Nachnamen des Mannes trägt sie weitere 32 Jahre nach der Scheidung.
So eine Handlungsidee hat Potenzial und lässt sich prima ausbauen. Im nächsten Schritt sollte die Idee konkretisiert werden. Die Geschichte kann vor hundert Jahren anfangen. Warum musste die Frau abhauen? Wegen eigener Verbrechen? Als Flüchtling? Als Vertriebene? Als Umsiedlerin? Sie muss auch einen Namen haben, der sollte zur Geschichte passen. Gisele, nach Frau Bündchen, oder etwas verruchter, Kate, nach Frau Moss? Schluss mit der Erbsenzählerei, die Frau bekommt den Namen Gisela. Der unterwegs aufgegabelte Mann bekommt den Namen Karlheinz.
Nun geht es an die Recherche für das Filmprojekt. Der Einfachheit halber müssen dazu Leute aus der Verwandtschaft herhalten. Aber so einfach wie gehofft, tut sich das dann doch nicht an. Es erfordert viel Arbeit:
Die Gisela hält ihren Geburtsnamen geheim. Als Herkunftsort nennt sie Stettin, vermeidet dabei jede prüfbare Angabe. Von ihrem Vater ist nicht einmal der volle Name bekannt. Ein Namensteil ihrer Mutter rutsche ihr versehentlich raus. Hin und wieder erzählt sie kurze Bruchstücke ihrer Familiengeschichte aus Stettin und widerruft sie danach sofort. Man habe sich verhört und alles falsch verstanden. Deshalb sind solche Rückfragen hirnrissiger Unsinn auf den sie gar nicht erst eingeht.
Die erbsenzählerische Recherche deckte die vollen Namen der Eltern von Gisela auf. Sie lebten im Raum Stettin. Archivauskünfte zu den Eltern ergaben, die Leute hatten gar keine Kinder. Der Vater von Gisela ist in dem Jahr 1943 in einem Krankenhaus verschollen. Das führte zu einem neuen Gedankenansatz für die Filmhandlung. War die Gisela wegen ihrer Verbrechen abgehauen und hatte dabei die Identität einer anderen Person angenommen, oder war die Archivauskunft zu ihren Eltern falsch? Aber wieso machte sie keine nachvollziehbaren Angaben über ihre Zeit in Stettin? Hier schien die Realität die Filmgeschichte zu übertreffen, sogar die einer Mockumentary.
Die Recherche zum Vorleben des aufgegabelten Karlheinz verlief ähnlich. Dessen Familie schottet sich ab und gab von ihrer Familiengeschichte absolut nichts preis. Man machte die Kinder von Karlheinz auch nicht mit anderen Verwandten bekannt und gebrauchte falsche Namen. Sogar das zuständige Archiv gab dem Sohn von Gisela und Karlheinz keine Auskunft zu seinen Eltern, den Großeltern und Urgroßeltern. Zumindest für die letzten beiden waren alle Archiv-Schutzfristen abgelaufen. Das Archiv betreibt für Akten, die zwischen den Jahren 1932 und 1945 entstanden sind, eine Geheimabteilung in der es Daten zu Personen unter Verschluss hält und zwar auch noch im Jahr 2019. Hinzu kommt eine weitere Kuriosität. Die Geburtsstadt des ältesten Sohnes von Gisela und Karlheinz bestätigte diesem, dass er dort niemals als Bürger registriert war. Der Junge kam erst im Alter von fast acht Jahren, in einer hunderte von Kilometern entfernten Stadt in die erste Klasse, sozusagen aus dem „Nichts“.
Gegen diese Recherche-Ergebnisse wirkt eine noch so krude Mockumentary müde.
An dem Punkt starb das Filmprojekt.
Weil es sich bisher um die Recherche zu Verwandten handelte, sattelte der verhinderte Filmemacher auf die Familiengeschichtsforschung um. Da musste doch was heraus zu kriegen sein! Für die Familie von Gisela in Stettin gibt es ein Zwischenergebnis, das ist hier dargestellt. Es wäre schön, wenn jemand etwas erhellendes zu dieser Familiengeschichte beitragen könnte. Leider ist das während jahrelanger Arbeit gefundene Recherche-Ergebnis nicht sehr umfangreich. Sowas findet man in einer intakten Familie innerhalb weniger Stunden.
Die Familie Marquardt in Stettin
Die Kurzfassung:
Unser Großvater Carl Gustav Theodor Marquardt wurde 1892 im sehr abgelegenen Hinterpommern geboren. Unsere Großmutter Ida Emma Meta Balk wurde 1894 in einem Dorf nahe Stettin geboren. Beide trafen sich in der Kleinstadt Altdamm und heirateten dort 1920. Danach zogen sie nach Stettin. 1923 wurde ihre Tochter Rita geboren und 1925 die Tochter Gisela. Die Familie betrieb in Stettin einen Lebensmittelhandel bis kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs. Vater Karl starb während des Krieges im Jahr 1943 im Alter von 51 Jahren. 1945 kamen die drei Marquardt-Frauen, Mutter und zwei Töchter, im Dorf Bürstel bei Bremen an. Dieser Zweig der Familie Marquardt war schätzungsweise fünfundzwanzig Jahre lang in Stettin.
Will man familiengeschichtlich mehr wissen, dann muss man tiefer schürfen. Das führt hinsichtlich dieser Vorfahren auf einen steinigen Weg mit Sackgassen. Ich habe es trotzdem gewagt, weil mich u.a. der Ahnenforschervirus befallen hat.
Der folgende Text beschreibt diese Arbeit.
Mein Informationsstand zu den Familien Marquardt und Balk in Stettin
Unser Großvater kam aus Alt Draheim, Kreis Neustettin, in Hinterpommern. Der Ort liegt heute 136 Straßenkilometer östlich von Stettin und heißt jetzt Stare Drawsko. Er hat eine sehr interessante Geschichte, für ein Provinznest zwischen zwei Seen.
Unser Großvater wurde dort als Carl Gustav Theodor Marquardt am 28.01.1892 geboren. Einen Monat nach der Hochzeit seiner Eltern Anna Marie Martha Voese und Gustav Albert Theodor Marquardt. Der Vater von Carl war „Arbeitsmann“ und dessen Vater „Büdner“ in „Kaiserlich“ Draheim. Vom Leben des jungen Carl in Alt Draheim ist bisher nichts bekannt. Es gibt aber Erzählfragente von seiner Tochter Gisela, die ich nicht verifizieren konnte. Auch meine Nebenreche zu den Verhältnissen in Altdraheim brachte nur unzusammenhängende Information. Der Wohnplatz des jungen Carl blieb unbekannt. Für den Ort gibt es mehrere Schreibweisen.
Die Familie Marquardt muss in dem Ort zahlreich gewesen sein. Zumindest der dortige Gedenkstein für die Gefallenen des ersten Weltkriegs nennt einige Marquardts (4 bis 8, der Stein ist beschädigt). Auch unser Großvater war in diesem Krieg. Die Verlustliste meldet für den 23.8.1917: „Marquardt, Karl, Altdraheim, Soldat leicht verwundet.“ Das ist die älteste Information aus dem Leben unseres Großvaters. Eine zweite Quelle dazu fehlt noch. Carl war da bereits 25 Jahre alt.
Der Krieg dauerte bis 11.11.1918. Es ist möglich, dass der von seiner Verwundung genesene Karl bis zu diesem Datum Dienst leisten musste und dabei in die pommersche Garnisonsstadt Altdamm kam. Es ist auch denkbar, dass er nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst von Altdraheim aus nach Altdamm bei Stettin ging. Unterlagen über Lazarettaufenthalte von Karl und seine Truppenzughörigkeit fand ich bisher nicht.
Auch Altdamm im Kreis Randow gehörte noch zu Hinterpommern, weil die Stadt östlich der Oder lag, während der Kreis Randow überwiegend westlich der Oder in Pommern lag.
Es gibt familiäre Erzählfragmente.
Damals war die Zeit in der viele Landbewohner in eine Stadt zogen. Stettin war eine „Boomtown“, politisch gewollte Hafenstadt von Berlin und mitten in Deutschland gelegen. Je sechshundert Kilometer bis Holland und Russland (Ostgrenze Ostpreußen).
Die nächste Information über (nun) Karl kommt drei Jahre später. Der inzwischen
28-jährige Karl wohnte bei der Familie von Otto Balk im Kleinfelder Weg 4, Altdamm. (heute: Szybowcowa) Die Sichtung der Adressbücher ergab, diese Familie kam vermutlich 1911 aus dem nahen Augustwalde im Kreis Naugard nach Altdamm.
Mehr Verwandte der Balks wohnten in der Massower Straße 3 und 32, Altdamm. Darunter war auch Ida Emma Meta Balk. Sie wurde am 26.09.1894 in Augustwalde geboren und wohnt nun in der Massower Straße 3, Altdamm, im Haus ihrer Eltern Mathilde und Julius Balk. In dieser weitläufigen und an Personen zahlreichen Familie gab es mehrere Männer mit dem Rufnamen Julius. Ein Nebenrecherchestrang ergab, dass Ida Balk möglicherweise sechs Geschwister hatte.
Der Familienanschluss von Karl mündete in seiner Hochzeit. Am 20.10.1920 heirateten der 28-jährige Arbeiter Karl August Theodor Marquardt und die 26-jährige berufslose Ida Emma Meta Balk in Altdamm.
Für die damalige Zeit war das Heiratsalter der Brautleute relativ hoch. Bei der Hochzeit war vermutlich außer Karl niemand von der Familie Marquardt anwesend. Trauzeugen waren, für die damalige Zeit unüblich, der Vermieter von Karl, Eigentümer Otto Balk und der zukünftige Schwiegervater, Arbeiter Julius Balk.
Zusätzliche fragmentarische Familienlegenden über Altdraheim lassen diese familiär „einseitige“ Hochzeit auch vermuten. Die Recherche in Urkunden bietet dazu weitere Anhaltspunkte.
Die Adressbücher von Stettin und Umgebung zeigen zwischen den drei Adressen der Familie Balk den Zuzug von anderen Verwandten. Unter diesen Personen kann auch unsere Urur-Großmutter aus dieser Familie sein. Von einer weiteren Prüfung sah ich ab, weil es zum Zeitpunkt meiner Recherche fruchtlos erschien.
Wie viele Kinder das Paar Ida und Karl bekam ist unbekannt. Nach offizieller Auskunft des Bundesarchivs/Standesamt 1 Berlin hatten unsere Großeltern keine Kinder. Hier trafen meine Unkenntnis der Familienereignisse und eine formal korrekte, aber sachlich falsche Behördeninformation aufeinander. Die Auskunft bremste eine effektive Ahnenforschung gut drei Jahre lang aus. Sie wird durch die Jahre später aufgefundene Geburtsurkunde zumindest einer Tochter widerlegt.
Wo das junge Ehepaar von Oktober 1920 bis 1923 wohnte blieb unklar. Irgendwann im Jahr 1923 wohnte es in der Poststraße 32, in Grabow, einem nördlichen Stadtteil von Stettin. Der Adressbucheintrag lautet: „Marquardt, Karl, Handelsm. Poststr. 32, Utg.“
Tochter Rita Agnes Ida Marquardt wird am 01.03.1923 in Stettin und nicht in der noch selbständigen Stadt Altdamm geboren. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn Altdamm gehörte abwechselnd zum Kreis Randow, Kreis Naugard, Stadtkreis Stettin, Kreis Randow und zur Stadt Stettin. Ohne die Geburtsurkunde von Rita ist der Wirrwarr nicht aufzulösen. Rita kann auch in einer Stettiner Klinik geboren sein, als die Eltern noch in Altdamm wohnten. Man sieht hier wie wichtig eine zweite glaubhafte, bzw. Primär-Quelle zu einer Sache ist. Einstweilen gehe ich von der damals üblichen Hausgeburt aus. Näheres steht in der Geburtsurkunde von Rita.
Tochter Gisela Ruth Ida Marquardt kommt am 25.04.1925 als Hausgeburt in der Poststraße 32, Stettin-Grabow zur Welt. Laut Geburtsurkunde ist die Mitbewohnerin und Ehefrau von Karl Marquardt, Ida Marquardt geb. Balk die Mutter des Kindes. Das bezeugt die geburtenanzeigende Hebamme vor dem Standesbeamten.
Karl Marquardt hatte dort einen Milch- und Vorkosthandel. Vorkost waren Kartoffeln, Mehl, Trockenerbsen, Bohnen, Linsen u.ä.. Im Laufe der Zeit änderte sich das Geschäft von Karl. Zwischen etwa 1926 bis 1943 hatte er auch in dem gegenüber liegenden Gebäude Poststraße Nr. 12 eine Lebensmittelhandlung.
Die Adressen der Familie Marquardt in der Poststraße gehörten laut dem Stettiner Adressbuch von 1932 zum Schulbezirk XV und der Gemeindeschule Grabow, Grabower Mädchenschule. Heutige Adresse, plac Matki Teresy 8, Szczecin. (Kann man sich bei Google Earth ansehen.) Die uns bekannten Töchter hatten damals etwa 530 m Schulweg von der Poststraße aus zum Schulgebäude in der Kronenstraße 36, vorausgesetzt sie besuchten keine Privatschule. Die Schulpflicht betrug damals acht Jahre. Die Schule war direkt an die damalige evangelische Kirche angebaut. Die Kirche wird heute katholisch genutzt, der Schulteil anders. Schulzeugnisse liegen mir nicht vor. Über den weiteren Schulbesuch der Mädchen ist mir nichts bekannt.
Erzählungs-Fragmente zum Familienleben in Stettin
Man muss sich bei der Lektüre vergegenwärtigen, dass es sich hierbei um „Hörensagen“ über mündliche teilweise versehentlich spontan geäußerte Informationsfragmente von Gisela handelt. Die geschilderten Ereignisse sollten möglichst mittels zweier Quellen verifiziert werden.
Eine halbwegs zusammenhängende Erzählung weist auf die Großeltern in Altdraheim hin. Gisela berichtete mehrfach:
Unser Vater hat uns als Kinder mit zu den Großeltern genommen. Unsere Oma hat sich sehr gefreut. Die haben in einem Gut gewohnt. Der Opa fing Streit an. Es gab so viel Ärger, dass wir schnell wieder abreisen mussten. Der Opa war der neue Mann von Oma. Sie hatte den geheiratet, als ihr erster Mann nicht aus dem Krieg zurückkam. Er wollte unseren Vater und uns dort nicht haben.
Zumindest aus Sicht des Lebens in Stettin lässt sich vermuten, dass die Ursprungsfamilie von Karl in Altdraheim, nach dem Ende des ersten Weltkriegs zerfallen ist und der Kontakt auf ein Minimum reduziert war. Die Eltern väterlicherseits (also unsere Urgroßeltern in Altdraheim, insbesondere unsere leibliche Urgroßmutter) hatten deshalb wohl wenig Einfluss auf die Familie unserer Großeltern und auf unsere Mütter in Stettin.
Fortsetzung folgt!