Bei uns im Rheinland versinkt gerade alles im Schnee und es müsste eigentlich weihnachtliche Stimmung aufkommen. Leider tragen die Informationen aus Stralsund nicht dazu bei.

Kulturhistorisches Museum Stralsund
Kulturhistorisches Museum Stralsund, frühere Räume des Gymnasiums, Quelle Klugschnacker auf wikimedia.commons
CC-BY-SA

Die Stadt Stralsund hat gestern nach einer 5:3 Abstimmung beschlossen, die Leiterin des Stadtarchivs, Regina Nehmzow, fristlos zu kündigen. Begründet wurde diese Entscheidung nicht mit dem bekannt geworden Verkauf von ca. 6000 Büchern, der die ganze Lawine – Rettet die Archivbibliothek– erst in Gang brachte, sondern mit schon vorher stattgefunden Verkäufen, z.B. von 1000 Büchern für 20 000 Euro im März des Jahres.
Frau Nehmzow konnte sich jetzt erstmals zu den Vorwürfen öffentlich äußern, da hatte man ja schon lange drauf gewartet. Laut Ostseezeitung vom 7.12. 2012:

Nach OZ-Informationen hatte Archivleiterin Regina Nehmzow, die mit Rechtsbeistand erschienen war, erstmals Gelegenheit, vor Stadtvertretern Stellung zu nehmen. Wie sie erklärte, hätte das Archiv bereits seit den 90er-Jahren um mehr Geld für die Pflege der historischen Bestände gebettelt. Man sei damit aber immer wieder bei den Vorgesetzten abgeblitzt. So habe ihr Vorgänger, Dr. Hans-Joachim Hacker, schließlich als eine Art Verzweiflungsakt die Methode entwickelt, Dubletten zu verkaufen, um etwas Geld für die Restaurierung der wertvollen Bestände zu erhalten. Sie habe diese Praxis dann seit 2009 fortgeführt.
Die Gymnasialbibliothek, an der sich jetzt der ganze Skandal entzündete, sei immer mehr vergammelt. Deshalb habe man sich entschlossen, durch den Verkauf noch etwas Geld einzunehmen, bevor man einiges ganz wegschmeißen müsste.
Nach den Worten von Regina Nehmzow wusste der OB-Stellvertreter über die Praxis des Bücherverkaufs Bescheid. Dem widersprach Holger Albrecht jedoch energisch.

Frau Nehmzow hat ja anscheinend nicht in die eigene Tasche gewirtschaftet, der kurzfristige geäußerte unterschwellige Vorwurf, 20 000 Euro wären nicht aufzufinden, konnte entkräftet werden, der Betrag war wohl in der Stadtkasse gelandet. Was ist also von ihren Aussagen zu halten?

Die online angebotenen Bücher zumindest waren durchaus nicht am “Vergammeln” oder vor “Nässe triefend”,   wie der Antiquar mal behauptete.

Offensichtlich ist, dass schon ihrem Vorgänger Hacker der Wert dieser Bibliothek überhaupt nicht klar war. Im wirklich sehenswerten Bericht auf NDR „Verschimmelt und verhökert“ sagt er:
„Wenn ich mir dann anschaue dass der größte Teil dieses Sammlungsgutes Gymnasialbibliothek aus dem ehemaligen Schulbestand des Gymnasiums stammte, d.h. 75 % waren Alltagsliteratur fast im Sinne von Schulbüchern“
Dies wird vom NDR süffisant kommentiert: „Und dann teilweise mit veralteteter Mathematik, teilweise gar in Griechisch, das liest ja auch keiner mehr“ 

Gab es in Stralsund überhaupt ein historisches Bewusstsein für das Gymnasium?
Die traditionsreiche Schule wurde im Krieg geschlossen und danach nie wieder eröffnet. Die einzigen, die sich noch für das alte Gymnasium interessiert und seine Geschichte aktiv bewahrt haben, waren die in den Westen geflüchteten Ehemaligen.( Vereinigung ehemaliger Stralsunder Gymnasiasten in Plön)
In Stralsund fehlen Generationen von Schülerinnen und Schülern mit einem Verständnis für Schulgeschichte. Da gab es keine Ahnengalerie von Rektoren, (leicht belächelte) Goldene Abiturienten oder Jubiläen, in den die Geschichte der Anstalt gewürdigt und gefeiert wurde.
Eine räumliche Kontinuität hilft auch, geschichtliche Wurzeln zu entdecken und zu pflegen Und die gibt es eben auch nicht mehr in Stralsund. Gibt es einen einzigen Artikel, der in der DDR-Zeit zum Gymnasium Stralsund erschienen ist?(1)

Und wie stand es um die finanziellen Mittel?
Wenn ich den Haushaltsplan Stralsund (ab Seite 190 geht es um das Stadtarchiv) richtig lese (Ich wäre froh, wenn das jemand überprüft, der sich mit Finanzen besser auskennt als ich) :
hat das Archiv die Stadt Stralsund jährlich ca. 480 000 Euro gekostet. Der größte Teil sind Personalkosten.
Pflege und Unterhaltung von Kunstgegenständen (aus Spenden) wurde mit 100 Euro angesetzt, es sind weitere Ausgabenarten akribisch aufgeführt, aber Restaurierungs- oder Erhaltungskosten finde ich nicht
Die geplanten Kulturausgaben der Stadt 2012 insgesamt
Kulturhistorisches Museum -1.156.000
Stadtbibliothek -1.197.300
Tierpark -986.800
Musikschule -636.200
Kulturbüro -283.200
Stadtarchiv -476.600
Theaterpädagogisches Zentrum -164.600

Investitionen in größerem Umfang sind vorgesehen für den Wiederaufbau der Mahnkeschen Mühle im Tierpark (75 000 €) und das Deutsch-polnische Musikschulzentrum (2,6 Mill. €) aber ich finde keinen Cent für das Stadtarchiv.

Ich denke, dass Frau Nehmzow in dieser Hinsicht recht hat, dafür gab es kein Geld.
Das entschuldigt natürlich keinesfalls ihr Vorgehen,  aber es bestärkt mich in der Vermutung, dass zumindest ein Kern an Wahrheit in ihren Aussagen vorhanden ist und da sehr wohl jemand in der Stadt informiert war; sie nicht auf eigene Faust gehandelt hat. Hat sie versucht über andere Wege an Gelder zu kommen? Spendenaufrufe gestartet oder Stiftungen angesprochen? Man liest nur von prestigeträchtigen Aktionen, wo einzelne Archivalien wieder „herausgeputzt“ wurden.

Wie geht es nun weiter? In Stralsund schlagen die politischen Wellen hoch, die Entlassung soll in der Bürgerschaft nochmal diskutiert werden, da ist sicherlich noch kein Ende in Sicht. Solange nicht die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt, was aber bei der bisherigen Informationspolitik Stralsunds, immer nur das Nötigste zu sagen, noch ewig dauern kann, sehe ich da keine baldige komplette Aufklärung. Dazu schreibt gerade noch das Hamburger Abendblatt: Unklar ist bislang, ob die Stadtspitze von den möglicherweise seit Jahren praktizierten Vorgängen wusste. Der Vize-Oberbürgermeister Holger Albrecht habe im Ausschuss entsprechende Vorwürfe von Nehmzow zurückgewiesen. Teile der Bürgerschaft bezweifeln, dass Albrecht die Wahrheit gesagt hat. Die Stadtverwaltung will sich mit Verweis auf die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen nicht zu den Vorgängen äußern. Die Bürgerschaft kommt am kommenden Mittwoch zu einer nicht öffentlichen Sondersitzung zusammen.

Mehr als das Politikum interessierent mich aber: Was geschieht mit den Büchern? Es geht ja nicht nur um die bereits wieder aus Bayern zurückgekommenen Schriften, sondern auch um den wertvollen Bestand vor Ort. OB Badrow kündigte laut Abendblatt an,  dass alle Bücher in Thermocontainer gelagert werden sollen, bis ein anderes Gebäude für die Aufnahme bereit ist. Vorher würden die Bücher mit einer speziellen Absaugeinrichtung auf einer reinen Werkbank gereinigt. Das hört sich an, als ob es wörtlich aus den Gutachten des Zentrums für Bucherhaltung übernommen wäre. Die haben aber auch empfohlen: Für ihre Räumlichkeiten empfehlen wir ihnen sich von einer Fachfirma bezüglich der Sanierungsmöglichkeiten beraten zu lassen.

Haben hier entsprechende weitere Fachberatungen stattgefunden? Sind die Mitarbeiter des Archivs überhaupt zu solchen Maßnahmen qualifiziert? Passend dazu ein Kommentar auf ndr.de: Ich bin zutiefst traurig über der Ansehensverlust meiner Heimatstadt. Persönlich habe ich dem Archiv viel zu verdanken. Bin berufserfahrener Restaurator, Schimmelprobleme sind mir vertraut. Leider findet aber nicht mal eine Sekretärin seit einem Monat Zeit, mir einen Zweizeiler bezüglich meines Hilfsangebotes zu senden.


Auf unsere Vermittlung hin hat die Universitätsbibliothek  Greifswald freundlicherweise angeboten, den zurückgekehrten Büchern eine Heimat zu bieten.
Dort wäre man bereit die Bestände des Archivs sofort unterzubringen. Es würde ein Vertrag angefertigt (Depositalvertrag),  wonach die Bestände dort katalogisiert (elektronisch erfasst) und durch eine Restauratorin so instand gesetzt werden, dass es nicht zu einer weiteren Verschlechterung kommt. Ich halte das für eine ideale Lösung und die Stadt wäre diese sorge schon mal los.
Es ist noch nicht bekannt, ob die Stralsund dieses Angebot aufgreifen wird.

Und was weiterhin auf der Seele brennt: Was passiert mit den Büchern aus Stralsund, die munter weiterverkauft werden? Wie kann man diesen Abverkauf über ebay und große Antiquariatsplattformen stoppen? Selbst Bücher mit einem eindeutigen Stempel der Gymnasialbibliotehk werden da erneut angeboten. Ich glaube, da hat die Stadt sich bei den Verhandlungen über die Rückabwicklung über den Tisch ziehen lassen.

Internetangebot mit Stempel der Gymnasialbibliothek
Internetangebot mit Stempel der Gymnasialbibliothek bei ZVAB.com: Wilken, Carl, Heinrich; Andreas Osiander’s Leben, Lehre und Schriften, von seiner Geburt bis zu seiner Anstellung bei der Universität zu Königsberg.
Stralsund. Königliche Regierungs-Druckerei. 1844.

Aus der Beschreibung des nebenstehenden Angebots: Dr. phil. Wilken war Prediger an der St. Nicolai-Kirche zu Stralsund und ordentliches Mitglied der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Alterthumskunde in Stettin. Er widmete diese Schrift der hochwürdigen theologischen Facultät zu Königsberg bei der frohen Jubelfeier des dreihundertjährigen Bestehens der Universität als ein Zeichen inniger Theilnahme und verehrungsvoller Hochachtung.

In Stralsund gab es letztens einen großen Artikel in der Ostseezeitung über Bürger der Stadt, die jetzt beginnen, solche Angebote aufzukaufen. Berichtet wurde über einen Jahrgang der Stralsundischen Zeitung von 1840, gekauft bei ebay, eindeutiger Stempel der Gymnasialbibliothek, „fest gebunden, nicht verschimmelt“

Es widerstrebt mir zwar, dem Antiquar das Geld so in den Rachen zu schmeißen, aber verstehen kann ich es auch. Wenn die Stadt nun rein gar nichts unternimmt?

Auf der offiziellen Facebook-seite der Stadt wird der ganze Skandal um das Archiv übrigens konsequent totgeschwiegen nur gestreift und mein Hinweis auf die Petition wurde wieder gelöscht. So sieht Transparenz aus .

In Angesicht der unklaren Situation bitte ich weiter um Unterzeichnung der Petition, die aktuell bei ca 3500 Unterschriften steht. Man kann auch  Unterschriften auf Papier sammeln und diese Listen wieder hochladen.

M.Ott

(1) Danke an Holger Roggelin für diese Gedanken und Formulierungen

2 Gedanken zu “Keine frohen Vorweihnachtsnachrichten aus Stralsund”

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