Das Gymnasium in Stralsund, dessen verscherbelte Bibliothek derzeit viel Aufsehen verursacht, hatte viele bekannte Lehrer und prominente Schüler.
Zu den weniger bekannten Lehrern hörte der Konrektor Leopold Wilhelm Freese, dem aber einer seiner Schüler ein lebendiges Denkmal gesetzt hat. Sucht man nach Daten über Freese, findet man den Personalbogen in der Datenbank der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung: Geboren am 13. August 1815 in Stralsund, legte er am dortigen Gymnasium 1835 das Abitur ab. Er studierte und promovierte in Berlin und Halle und war nach kurzer Anstellung am Friedrichs(werderschen) Gymnasium in Berlin dann ab 1841 in Stralsund als Lehrer angestellt. Ab 1875 war er dort Konrektor und wurde 1882 pensioniert.
Leider gibt es keine Angaben zur Familie, so kann man nur vermuten, dass das Mitglied der Nationalversammlung Carl Freese , ebenfalls aus Stralsund und bis 1834 Oberlehrer am dortigen Gymnasium, auch zur Verwandtschaft gehörte.
Ein Porträt von Leopold Freese habe ich nicht, aber eine wundervolle Beschreibung: “ Die bei weitem hervorragendste, wirkungsvollste und uns alle begeisternde Lehrkraft des herrlichen Stralsunder Klostergymnasiums war der damals etwa sechzigjährige Konrektor »Leopold« Freese, genannt Poseidon. Ein schöner, fein geschnittener Gemmenkopf vom Habitus eines römischen Senators; glattrasiertes, etwas welkes Gesicht mit schlaffen, leicht beim eifrigen Sprechen sich blähenden, bläulichen Wangen (daher und von seinem imponierenden Griechentum überhaupt der Name Poseidon!), mit schmalen Lippen, aristokratisch glatt gescheiteltem, noch dunklem Haar und überaus innigen, blauen, lustigen Schalksaugen. “
Wer formulierte diese liebevolle Beschreibung? Es war Carl Ludwig Schleich, der „Erfinder“ der örtlichen Betäubung für operative Eingriffe. Der gebürtige Stettiner wurde aus familiären Gründen plötzlich nach Stralsund geschickt, wo er 1879 sein Abitur ablegte. Er beschreibt in seinen Lebenserinnerungen „Besonnte Vergangenheit“ nicht nur Stralsund, sondern widmet dem verehrten Konrektor Freese ein ganzes Kapitel.
„So kam er einst in die Klasse und sagte: »Je – mein lieber Teichen! Schwings Eltern haben mich – und da wollt ich!« Als wir alle mit Teichen anfingen, über diese Satzbrocken zu lachen, sagte Freese ärgerlich: »Na denn nich. Denn nachher lassen Sie!« Ohne förmlichen Kommentar würden Uneingeweihte den Sinn dieser Sätze nie erfassen. Aber wir, jahrelang geschult, wußten genau, was er meinte. Das sollte heißen: »Teichen, Schwing’s Eltern haben mir mitgeteilt, daß ihr Sohn Nachhilfestunden im Griechischen haben solle, und da möchte ich Sie, Teichen, fragen, ob Sie bereit sind, gegen Bezahlung dieses Amt eines Nachhilfelehrers zu übernehmen!« Gewiß eine anständige Leistung einer mündlichen Kurzschrift. »Oll« Freese hat unsere moderne Sprachstenographie, wie A. E. G. – K. d. W. – M. d. R. – ganz richtig vorausgeahnt.“
Freese sprach auch gerne Platt: „Meist sprach er mit uns plattdeutsch, und ich kann noch ganze Humorszenen in seiner Art vorpommerisch rezitieren: »Je, de oll’n Griechen de seggten nich, Ajax dat wir’n grotmächtigen Held, de stünn in de Schlacht af wi’n Boom, nee, de Homer de mockt anner Vergleiche, de wi as Beleidigung upsaten würr’n. Ajax stünn, seggt Homer, as en Esel, de den Barg vollbepackt rupkrupen sall. Em kümmern de Schläg‘ nich, de rechts un links up em runnerprasseln.« Und so zahllose Szenen. Plattdeutsch war in Stralsund um jene Zeit noch die allgemein gesellschaftliche Umgangssprache, auch in den besten Kreisen. Wir untereinander sprachen fast nur platt.“
Das Kapitel über „Konrektor Freese“ ist sehr zu empfehlen, es erinnert streckenweise an die Feuerzangenbowle und man kann sich diesen Lehrer richtig plastisch vorstellen. Eine online Fassung finden Sie auf Zeno.org oder im Projekt Gutenberg ; alternativ, vielleicht als Geschenk (?), gibt es das Buch auch gedruckt oder als Ebook im Buchhandel .
Die obige Liste der Abiturienten stammt aus dem Schulbericht 1879.
Stralsunder Schulschriften online:
Sundine 1840 enthält auf den letzten Seiten den Bericht des Gymnasiums 1840
Sundine 1841 enthält auf den letzten Seiten den Bericht des Gymnasiums 1841
Sundine 1842 enthält auf den letzten Seiten den Bericht des Gymnasiums 1842
1844 Schulberichtbericht unvollständig?
1858 Alternative 1 Alternative 2
1867
1876, ohne Schulnachrichten, aber mit dem Artikel über die Bestände der Bibliothek an griechischen und lateinischen Autoren.
1871 Alternative 1 Alternative 2
Hier sind mit einer Ausnahme nur Programme mit enthaltenen Schulberichten aufgeführt, es existieren weitere, die aber nur die wissenschaftlichen Abhandlungen enthalten. Für die Mitteilung weiterer Ausgaben wären wir sehr dankbar!
Weitere Literatur zum Gymnasium:
Mitteilungen von Wilhelm Hahn in der Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des Gymnasiums zu Stralsund am 20. April 1910
Mitteilungen aus dem ältesten Archiv (des Gymnasiums)
S. 134f. ist die Urkunde des Stralsunder Bürgers Nickel Erich von 1633 abgedruckt, die ein Vermächtnis zugunsten des Ankaufs von Büchern für arme Schüler und also indirekt die 2012 verscherbelte und unvollständig zurückgeholte Gymnasialbibliothek betrifft.
M.Ott