Der Leichenschmaus
Auf dem Lande in unserer engeren Heimat ist der Leichenschmaus ein noch immer bestehender Volksgebrauch, der bisher noch nicht ausgerottet werden konnte. Auch in manchen kleineren Städten Vor-und Hinterpommerns ist diese Sitte – oder besser Unsitte – noch vorzufinden. Der Begräbnisschmaus hängt mit den heidnischen Gebräuchen zusammen, die bei der Christianisierung der Pommern mit übernommen worden sind.
Nach alten Überlieferungen wurden an den Grabstätten der Pommern große Gastereien gegeben. Am 30., am 60. und am 100. Tage nach dem Tode sind die Freunde und Bekannten des Verstorbenen zu der Begräbnisstätte gegangen und haben dort gehörig gegessen und ausgiebig dem Trunk gehuldigt. Wenn die Hinterbliebenen gesättigt waren, dann wurde dem Toten „sein Teil“ in das Grab gestellt. Bekanntlich haben die Gräber aus großen übereinander gelegten Steinen bestanden. Die dem Toten zugedachten Getränke und Speisen wurden auf die Weise in das Grab gebracht, dass man den Schlußstein beiseite schob. In der Annahme, das die Seele des Todten nicht stürbe, haben sich die Pommern diese Sitte nicht nehmen lassen. Der Schlußstein wurde später wieder vorgeschoben, und die Leidtragenden sind dann davon gegangen. Am nächsten Morgen konnte dann festgestellt werden, daß Speisen und Getränke verzehrt waren. –„villeicht vom Teuffel“ wie die pommerschen Chronisten hinzuzufügen wissen. Die Hinterbliebenen haben aber gemeint, der Tote habe sich in der Nacht gütlich getan.
Nach der Christianisierung hörte dieser Volksgebrauch in dieser Art langsam auf. Ganz war er aber nicht auszurotten, und deshalb mußten sich die Bekehrer der Pommern dazu verstehen, daß gleich nach dem Begräbnis in der Wohnung der nächsten Anverwandten des Verstorbenen ein Gastmahl veranstaltet wurde. Im Mittelalter war es an etlichen Orten Pommerns Sitte, daß dem Verstorbenen, „so der totte etwas gewest“, ein Seelenbad „nachgetan“ wurde, “da sich die armen Lewte baden und man inen bier und brodt gibt“. Darauf bestellte man sich und den trauernden Hinterbliebenen auch ein Bad — mit anderen Worten: man „badete“ den inneren Menschen mit Speise und Trank.
Die Gastereien bei den Begräbnissen arteten schließlich zu großen Zechgelagen aus, und es soll sogar vorgekommen sein, daß allzu eifrige Verehrer des Verstorbenen den Toten ,hoch leben“ ließen. Die „Räte“ der pommerschen Städte hatten ihre liebe Not, um diesem Unfug zu bekämpfen. Fast in jeder Chronik findet man eine sogenannte „Begräbniß Ordnung“ abgedruckt. Die meisten dieser Ratsverordnungen sind im 17. Jahrhundert erlassen worden. Der Rat der Stadt Stolp z. b. behauptet in seiner Begräbnis-Ordnung vom Jahre 1625, daß dies „Trawrgastereyen für schlechte arme Bürger in diesen geschwinden zeiten untreglich und beschwerlich zu halten seyen“. Aus diesem Grunde wurden nicht nur allein die Mahlzeiten, die nach dem Begräbnis stattfanden, sondern auch die Leichenwachen abgeschafft. Wer dagegen verstieß, mußte 10 Gulden in die Ratskasse zahlen.
Mit den eben erwähnten Leichenwachen und den Trauer-Gastereien haben aber die Ratsverordnungen nicht aufräumen können. In vielen Städten wurden deshalb die Verordnungen mit strafverschärfenden Zusätzen versehen. Auch die Zunftrollen der Handwerker-Gilden aus dem 17. Jahrhundert weisen zahlreiche Bestimmungen auf, in denen die Begräbnisfrage nach dieser Richtung hin geregelt wird.
Trotzdem hat sich die Veranstaltung von Gastereien nach Beerdigungen nicht ausrotten lassen. Im Kreise Neustettin hat sich die Sitte noch in folgender Form erhalten: Stirbt in der dortigen Gegend ein Familienmitglied eines Bauern, so werden alle Besitzer im Dorfe durch die Leichenwäscherin zur Beerdigung eingeladen. Jeder Geladene läßt am Abend vorher ein Pfund Butter und zwei Liter Milch ins Trauerhaus bringen. Am Vormittage des Begräbnistages begeben sich dann die Geladenen meist mit der ganzen Familie zu den Leidtragenden, beten am Sarge ein „Vaterunser“ und erhalten dann Kaffee und Kuchen. Zur angesetzten Stunde erscheinen Pastor und Lehrer, um die Leiche zu beerdigen. Darnach findet im Trauerhause ein großes Mittagessen, gewöhnlich zu „drei Gängen“ statt, nach drei Stunden gibt es Kaffee und Kuchen, und gegen 10 Uhr Abendbrot. Bier und Schnaps dürfen hierbei nicht fehlen. Gegen 12 Uhr nachts ist die „Gräwnis“ aus. Auf den Hinweis, daß diese Art von „Beerdigungsfeierlichkeit doch eigentlich eine Unsitte sei, erhielt ein Gegner dieses Leichenschmauses die Erwiderung: „Dadurch vergessen die Angehörigen des Verstorbenen Trauer und Herzeleid“.
Demnach scheint diese Volkssitte teilweise noch so fest zu wurzeln, daß wohl noch lange Zeit vergeht, ehe sie aussterben wird.
G. A. Bentlage