Wie man sich in Pommerns schwerster Zeit zu helfen wusste
Im Pommernbrief 1951 berichtete in der Ausgabe vom 5. Oktober Karl-Friedrich Marquardt aus der Zeit kurz nach Kriegsende in Schlawe. Marquardt war eigentlich Katasterbeamter, hatte sich aber großes botanisches und zoologisches Wissen angeeignet. Er legte einen botanischen Garten in Schlawe an und baute die naturwissenschaftliche Abteilung des Kreis-Heimatmuseums in Rügenwalde auf.

Selbst des besten Arztes Kunst versagt, wenn keine Arzneimittel vorhanden sind.
Aus diesem Grundsatz ließ mich der von allen Schlawern hochverehrte Sanitätsrat Dr. Röhrich ins Krankenhaus rufen. Da die innere Stadt fast völlig zerstört war und mit ihr auch die Apotheke, waren Arzneimittel ein rarer Artikel. Ähnlich wie in Schlawe sah es fast in allen anderen Städten aus, und so konnten auch von anderweit keine Medikamente besorgt werden. „Könnten Sie wohl verschiedene Heilpflanzen in größerer Menge beschaffen und daraus auch Arzneien bereiten?“ war die Frage des Herrn Sanitätsrats. Denn nachdem die apokalyptischen Reiter über uns hinweggebraust waren, geisterte ihr unheimliches Gefolge durchs Land. Der Sensenmann hielt in Gestalt von Typhus mehr denn reichliche Ernten, und Diphterie und ein ganzes Heer anderer Krankheiten folgte.
„Zunächst gebrauchen wir dringend Stopf- und Abführmittel, wenn irgend möglich, lieber heute als morgen. Dann müssen wir unbedingt ein Herzmittel haben, sonst sterben die Kranken wie die Fliegen!“ Glücklicherweise wußte ich Rat. Als wirksames Stopfmittel war mir das Gänsefingerkraut bekannt, und dieses wächst ja stellenweise in großen Mengen. Faulbaum ist reichlich als Unterholz in den Wäldern vorhanden. Aber, aber, die Faulbaumrinde darf erst nach mindestens einjähriger Lagerung als Abführmittel verwendet werden, sonst erregt sie Erbrechen und wirkt giftig. Was nun? So lange konnten wir nicht warten. Also etwas anderes. Rhabarberwurzeln aus den Gärten? Aber dieses ist nicht der richtige „Abführrhabarber“.

Da fiel mir ein, daß die Faulbaumrinde nach stärkerer Erhitzung in wenigen Stunden verwendbar wird. Hierzu erwies sich die Sterilisationsanlage des Krankenhauses als vorzüglich geeignet. Bald hatte der in solchen Dingen erfahrene Krankenwärter Boldt die richtige Behandlung heraus, und so stand uns dieses unerläßliche Mittel in nötiger Menge zur Verfügung. Die so behandelte Rinde hatte einen Vorzug: sie duftete nach Schokolade; der daraus bereitete Tee wurde von den Kranken gerne getrunken und hatte eine vorzügliche Wirkung.
Größere Schwierigkeiten bildete die Herstellung des Herzmittels „Digitalis“ und des schmerzstillenden und gefäßerweiternden Mittels „Atropin“. Zwar wies der Botanische Garten einige Bestände von rotem Fingerhut und Tollkirsche auf, aber aus diesen gefährlichen Giftpflanzen eine gebrauchsfertige Arznei herzustellen, war ohne Hilfsmittel nicht so einfach. Schon bei der Bearbeitung mit ungeschützten Händen zeigten sich leichte Vergiftungserscheinungen, denn das Tollkirschengift, wie auch das des Stechapfels und des Bilsenkrautes wird auch von der Haut aufgenommen. Also war schon deshalb äußerste Vorsicht geboten.
Schließlich wurden auch diese Hindernisse überwunden, und ich kann wohl sagen, daß ohne diese Mittel heute so mancher nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. – Zwar hatte gleich nach dem Zusammenbruch der Apotheker Paul Schroeder aus einigen erhalten gebliebenen Beständen eine Notapotheke im Krankenhause eingerichtet. Die wenigen Mittel nahmen aber bei den Massenerkrankungen bald ein Ende, und an ein Ergänzen der Medikamente war einstweilen nicht zu denken. Wir waren also immer mehr auf die heimischen Arzneipflanzen angewiesen.
Es wurden mehrere Frauen und einige Männer im Garten mit dem Anbau von Heilkräutern beschäftigt, aber sie arbeiteten in der ersten Zeit lediglich für eine Brotzuteilung, und ein Lohn konnte ihnen beim besten Willen zunächst nicht gezahlt werden. Ich selbst arbeitete auch nur für Essen, das ich vom Krankenhause erhielt.
Erst später besserte sich dieser untragbare Zustand. Riesige Schwierigkeiten bereitete das Sammeln der wildwachsenden Pflanzen. Sie mußten oft von weither geholt werden. Bei der herrschenden allgemeinen Unsicherheit wußte man nie, ob wir von solcher Fahrt lebendig zurückkehren würden. Das Fuhrwerk stellte das Krankenhaus, manchmal auch der Starost.
Im allgemeinen wurde ich von den russischen und polnischen Behörden geschützt, und mein Bestreben wurde den Verhältnissen nach gefördert. Bei weiteren Fahrten gab man uns zu unserer Sicherheit sogar einen Mann von der Miliz mit. Aber was hatte das bei solchen unruhigen Zeiten zu sagen. Als wirksamster Schutz erwies sich stets eine Tafel mit russischer Aufschrift, die an unserem Gefährt angebracht war. Trotzdem fehlte es nicht an aufregenden Zwischenfällen, die aber immer noch einigermaßen gut für uns ausliefen. Solche Fahrt kam meistens nur erst nach vielen Laufereien und Verhandlungen mit den Behörden zustande. Gehörten doch dazu immer wieder allerlei schriftliche Ausweise und Genehmigungen. Den Kutscher spielte in den meisten Fällen Frau Krenzin aus der Thomasstraße, in deren Haus auch die Kräuter getrocknet wurden. Die selteneren Heilpflanzen wurden im Botanischen Garten in Mengen angebaut. Mit der Zeit hatten wir ein ganzes Lager zusammengebracht und konnten mit dessen Hilfe Tee gegen viele Krankheiten und auch Arzneien herstellen.

Eines Tages eröffnete mir der leitende Arzt des Krankenhauses, Herr Dr. Sieloff, daß nun auch die Verbandmittel zu Ende gingen. Nach einigen Überlegungen fand ich auch hier einen vollwertigen Ersatz, das Torfmoos. Zunächst wurde ein Versuch damit gemacht. Sauber gewaschen, in Gazebeutel verpackt und sterilisiert, bewährte es sich glänzend und übertraf an Aufsaugefähigkeit sogar den Zellstoff. Darauf wurden zwei Wagenladungen Moos aus dem Salesker Moor geholt. Oft mußten wegen einer einzigen Pflanze weite Strecken zurückgelegt werden.
Infolge des ungewöhnlich kalten Winters und der zeitbedingten ungesunden Verhältnisse gab es viele Erkältungskrankheiten. Nun ist bei Nierenentzündung der bekannte „Bärentraubenblättertee“ ein wichtiges Heilmittel. „Wir gebrauchen also Bärentraubenblätter in Menge“, sagte Dr. Sieloff. Ja, Bärentraube, die wächst erst in größeren Beständen im Kreise Rummelsburg. Eine Bahnfahrt dahin war zur Zeit unmöglich. Also blieb nur das Fuhrwerk. Die Entfernung Schlawe-Rummelsburg hin und zurück beträgt etwa 120 km, und diese Strecke mit einem Pferd an einem Tage zu überwältigen, ist keine Kleinigkeit, zumal das Tier oft sein Blut zur Serumgewinnung hergeben mußte. Nach endlosen Behördenverhandlungen fuhren wir, wohl ausgerüstet mit allerlei amtlichen Bescheinigungen, eines Morgens früh um 4 Uhr los und landeten nachts um 1 Uhr mit unserer kostbaren Fracht glücklich und ohne jeden Zwischenfall in Schlawe.
Anfangs nahmen Läuse und Krätze schnell überhand. Da für die zur Bekämpfung nötigen Salben kein Fett vorhanden war, lieferten die Patienten Schmalz oder Butter. Täglich wurde eine riesige Reibschale voll von diesen zur Zeit so teuren Nahrungsmitteln zu Krätze- und Läusesalbe verarbeitet. Viel schlimmer als diese Parasiten war die sogenannte „Russische Krätze“. Wodurch sie hervorgerufen wurde, stand nicht einwandfrei fest. Dem Krankheitsbild nach mochte sie verschiedene Ursachen haben. Im allgemeinen zeigten sich zunächst an Armen und Beinen eiternde Stellen, die später zusammenflossen und ganze faulende Borken bildeten. Ohne Behandlung griff die Krankheit auf den ganzen Körper über. Alles Pinseln mit Methylviolett und alle anderen üblichen Salben halfen kaum oder gar nicht.
Nach einiger Zeit gelang es mir, auch hierfür ein schnell wirksames Mittel zu finden. Ein besonderer Tee brachte selbst in ärgsten Fällen die Entzündungen zum Stillstand, und eine Salbe förderte den weiteren Heilprozeß. Bald konnten kaum die nötigen Mengen dieser Mittel hergestellt werden, denn selbst bis Warschau drang der Ruf unserer Apotheke. Mit der Zeit wurden wir aber auch dieser furchtbaren Plage Herr.
Da seit einiger Zeit ein polnischer Apotheker im Orte war, sollte eines guten Tages meine Apotheke geschlossen werden. Ich machte den Starosten darauf aufmerksam, daß viele arme deutsche und auch polnische Kranke vorhanden seien, die nicht die hohen Preise zahlen konnten. Durch Fürsprache des polnischen Kreisarztes gelang es, daß ich die deutsche Apotheke im Krankenhaus bis zu meiner Ausweisung im Juli 1947 verwalten durfte.
Karl Friedrich Marquardt