Erschienen im Piper Verlag, 368 Seiten, 28 €

„Gebt mir etwas Zeit“, heißt das neue Buch von Hape Kerkeling, und ich behaupte kühn, dass es unsere Ahnenforschung verändern wird.

„Geeft wat tyt“, steht am Haus des Hutmachers Cornelis Kerkeling in Amsterdam. Der deutschen Übersetzung „Gebt mir etwas Zeit“ kann man derzeit kaum aus dem Weg gehen. Im Fernsehen, in Zeitungen und Buchhandlungen – überall trifft man auf das grüne Cover mit dem historisch gewandeten Hape Kerkeling und eben diesem Motto aus dem Jahre 1667. Innerhalb weniger Wochen hat es das Buch an die Spitze der Bestsellerlisten geschafft. Und die meisten dürften es schon wissen – Hapes Vorfahren sollen im britischen Königshaus zu finden sein.

Ob ein Gentest, ominöse Briefe aus der Vergangenheit, die Erinnerungen der dementen Großmutter und der Urlaubsplan des englischen Königs wirklich als Beweise einer royalen Abstammung dienen können, lasse ich dahingestellt. Denn eigentlich ist diese Geschichte nur eine von vielen, die in dem Buch erzählt werden. Doch mit ihr lässt sich gut Werbung machen und schlecht ist sie auch nicht. Hape Kerkeling hat ja schon im Falle der niederländischen Königin bewiesen, dass er sich auf dem royalen Parkett bewegen kann.

Seit seiner Kindheit betreibt Hape Kerkeling Ahnenforschung. Die Corona-Pandemie verschaffte ihm die Zeit, tiefer einzusteigen in seinen Stammbaum. Er holte sich dabei professionelle Unterstützung – ein kanadischer Genetikexperte und Andrea Bentschneider von Beyond History bürgen für eine gewisse Qualität.

Herausgekommen ist eine unterhaltsame Mischung aus Memoiren, historischem Roman, Zeitreise in die 80er und einem glühenden Plädoyer für Familienforschung, DNA-Genealogie und Biographiearbeit. 

„Wenn wir zurückblicken könnten in die tiefste Vergangenheit unserer Vorfahren, was würden wir da über uns selbst entdecken oder gar lernen?“, formuliert Hape Kerkeling gleich zu Beginn das zentrale Thema seines Buches. Er findet seine Antwort. „Jetzt ist es hell. Es brauchte nur etwas Zeit.“, stellt er am Ende seiner Ahnenreise fest.

Doch zurück zum Anfang. Erinnerungen an einen Urlaub in Amsterdam und eine Sprachreise nach England deuten eine wundersame Verbindung des jungen Hape zu den Ländern diesseits und jenseits der Nordsee an. Das gilt ganz besonders für die Stadt an der Amstel: „Aristoteles war von folgender Theorie überzeugt: Wirft man einen Stein in die Luft, dann kehrt dieser zwingend wieder zurück an seinen natürlichen Ort. Wirft man mich in die Luft, taumele ich und falle, dann lande ich zwingend wieder in Amsterdam.“

In der Niederländischen Hauptstadt lebten Hapes Vorfahren, doch Amsterdam ist auch Schauplatz einer tragischen Episode in seinem Leben. Hier fand und verlor er seine erste große Liebe in Zeiten, in denen in Deutschland niemand wissen durfte, dass „Hannilein“ nicht auf Frauen steht. Da wirkt es wie eine persönliche Befreiung, wenn Hape Kerkeling heute in dieser Offenheit über den Aidstod seines Freundes Duncan schreiben kann, ohne irgendwelche Ressentiments fürchten zu müssen. Parallel taucht Hape ab in das Goldene Zeitalter der Niederlande und folgt den Spuren seiner Vorfahren Gerrit Kerkelingh und dessen Sohn Barend. 

Viel hat Hape Kerkeling recherchiert über das Leben im Holland des 17. Jahrhunderts. Drumherum hat er mit schriftstellerischer Phantasie Geschichten aus dem Leben seiner Vorfahren gebaut, die sich so oder auch ganz anders zugetragen haben mögen. Grundsätzlich ein tolles Stilmittel des genealogischen Schreibens, um den vor Jahrhunderten verstorbenen Vorfahren Leben einzuhauchen. Aber es scheint dann doch zu viel Zeit zwischen heute und den Jahren des Tulpenfiebers zu liegen – Hape Kerkeling bringt zwar eine Fülle von historischen Fakten unter, doch diese Quantität erdrückt seine Figuren. Sie bleiben vage und mangels Stammbaum auch nicht immer zuordenbar.

Ganz anders gelingt Hape Kerkeling die Darstellung der (fiktiven) Begegnung seiner Großmutter mit dem englischen König. Er taucht genussvoll ein in das beginnende 20. Jahrhundert. Mit Witz und Phantasie überzeugt er die Leserinnen und Leser davon, dass es genau so gewesen sein muss, im Marienbad der Kaiserzeit, als die junge Agnes zeit- und ortsgleich zur Sommerfrische des „Herrn Albert aus Coburg“ schwanger wurde. 

Eine ganz andere Art der Darstellung wählt Hape Kerkeling bei der Schilderung der Geschichte seines Großvaters. Hermann Kerkeling war als Kommunist von 1933 bis 1945 zunächst im Gefängnis und später im Konzentrationslager inhaftiert. Das Kapitel, das seiner Geschichte gewidmet ist, enthält vorwiegend Zitate aus Urteilen und behördlichem Schriftverkehr. Das spricht für sich selber, ohne dass ein Autor eingreifen muss.

Mein Fazit: Insgesamt ein gut recherchiertes Buch, unterhaltsam und mit Tiefgang, im „holländischen“ Teil etwas mühsam, im „englischen“ dafür sehr amüsant. Kerkelings genealogische Recherchen muss man glauben – ein Stammbaum ist nicht abgedruckt und nur einige genealogische Nachweise finden sich in einzelnen Fußnoten. Aber wer den Einfluss seiner Vorfahren auf sich selbst ergründen will oder Inspirationen für genealogisches Schreiben sucht, findet eine Menge Anregungen.

Das große Verdienst des Buches wird für uns in seiner Wirkung liegen. Hape Kerkeling setzt Trends und wenn es der Familienforschung wie dem Jakobsweg ergeht, dann wird unser Hobby in nächster Zeit viele neue Anhänger finden. Die Zahl unserer DNA-Matches könnte nach oben schnellen, hoffentlich verbunden mit dem Interesse an einer fundierten Papierforschung. Pessimistische Familienforscher mosern zwar schon jetzt, dass mit Horden von Anfängern zu rechnen sei, die schnell enttäuscht feststellen werden, dass kein blaues Blut in ihren Adern fließt. Doch wir wissen ja – wer einmal anfängt mit der Familienforschung, den packt meist die Sucht. Deswegen – kann uns Besseres passieren, als dass sich ein prominenter Mensch, der zudem auch noch genealogisch recht seriös vorgeht, zur Galionsfigur der Ahnenforschung macht? Ich freue mich auf die zu erwartenden „Neuen“ und bin gerne bereit, Ihnen das zu geben, was Cornelis Kerkeling sich wünschte – etwas Zeit. 

Einen guten Eindruck des Buches vermittelt „Die schöne Lesung“ von Radio Eins in der ARD-Audiothek.

 

Ein Gedanke zu “Ein Plädoyer für die Ahnenforschung”

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